Vor 100 Jahren Oerter über Rocker über Most

März 1924 – Dokumente aus dem Syfo-Archiv

Fritz Oerter:

Rudolf Rocker: Johann Most. Das Leben eines Rebellen.

John Most war vor einigen Jahrzehnten eine der vielumstittensten Persönlichkeiten innerhalb der sozialistischen und anarcho-syndikalistischen Bewegung. Es ist ihm zweifellos von seinen Zeitgenossen viel Unbill widerfahren, auch von denen, die ihm in Geist und Gesinnung nahestanden. Manche seiner begeisterten Anhänger mögen ihn vielleicht auch überschätzt haben. Jedenfalls aber war er ein stets opferbereiter und selbstloser, unerschrockener Freiheitskämpfer. Rudolf Rockers großes Verdienst ist es, durch sein Buch die Gestalt des kühnen Rebellen ins richtige Licht gerückt zu haben. Jener Erbfehler der deutschen Revolutionäre, der bewirkt, dass sie so wenig Sinn für ein einmütiges entschlossenes Handeln zeigen und häufig statt die wirtschaftlichen und politischen Machthaber ihre eigenen Klassen- und Gesinnungsgenossen bekämpfen, hat sich auch in der frühen revolutionären Bewegung stark bemerkbar gemacht. Ein wenig mehr gegenseitige Toleranz und weniger gegenseitiges Mißtrauen – und die Bewegung wäre mächtig gefördert worden.

Wenn wir von J. Most eine richtige Vorstellung gewinnen und ihm volle Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, dann ist es notwendig, auch die ihn umgebenden Zeit- und Milieuverhältnisse in Betracht zu ziehen. Das hat sein Biograph wohl berücksichtigt und so ist in dem Buch nicht nur das Charakterbild John Mosts, sondern zugleich eine lückenlose Geschichte des deutschen herrschaftslosen Sozialismus zustande gekommen, weshalb es jedem, der die letzten fünfzig bis siebzig Jahre Arbeiterbewegung genauer kennen lernen will, unentbehrlich werden dürfte. Inmitten eines wildbewegten Meeres von Kämpfen und Stürmen, erblicken wir da die urwüchsige eherne Gestalt Mosts, die umbrandet und oft überflutet, dennoch wie ein Fels aufrecht steht.

Wir erleben beim Lesen des Buches alle die furchtbaren Kämpfe noch einmal mit und staunen ob der Kühnheit und Energie der zum Äußersten entschlossenen Freiheitshelden, deren Leben wie besonders das von John Most ein wirkliches Martyrium, ein fortwährendes Opferbringen war. Aber wir hören auch von den Zwiespältigkeiten, die innerhalb der jungen sozialistischen Bewegung ausbrachen, von den sich frühzeitig in Verleumdung und Verdächtigung übenden sozialdemokratischen Führern, von kleinlicher, persönlicher Ränkesucht, ja auch von offenbaren Verrätereien, durch die so mancher braver Kamerad in Gefangenschaft und Tod geriet.

Es läßt sich eine gewisse Entwicklung in der freisozialistischen Bewegung des letzten Jahrhunderts erkennen. Ich gebrauche das Wort freisozialistisch, um jene Richtung zu bezeichnen, die antiautoritär und föderalistisch sich von zentralistischen Parteisozialismus, der sich bald versteinerte, scharf unterschied und trennte. Zuerst propagierte diese freiere revolutionäre Richtung (während die andere ins faule Bett der Reformen einlenkte) ziemlich allgemein den Gedanken der bewaffneten Insurrektion: Revolutionssoldaten – Militär wider Regierungssoldaten – und Militär. Allmählich aber verwarf man die organisierte Gewalt und trat für die Propaganda der Tat, für individuelle Terrorakte ein. In beiden Fällen mußte man sich jedoch auf Verschwörerpraktiken einlassen und konnte nicht verhindern, daß sich selbst in die engsten Kreise der Verschwörer hin und wieder unehrliche Elemente einschlichen, die als Spione im Dienste der Polizei standen und Verrat übten. Solange die Sozialdemokratie noch einen einigermaßen revolutionären Charakter hatte (lang, lang ist’s her), machten sich solche niederträchtigen Subjekte bekanntermaßen sogar an die sozialdemokratischen Zirkel heran. Keinem Anarchisten fiel es jemals ein, die Sozialdemokratie für solche Schurken verantwortlich zu machen oder die Teilnahme und Führer der sozialdemokratischen Partei mit diesen Polizeispitzeln in einen Topf zu werfen. Aber die Sozialdemokraten vom Schlage des alten Liebknecht entblödeten sich nicht, solche gemeine Unterstellungen unseren Vorkämpfern zu machen. Ja, sie taten dies sogar solchen Kämpfern gegenüber, die für ihre Taten den Tod erlitten. Man mag über die Propagandisten der Tat urteilen, wie man will, und ihre Methode für so verfehlt halten, wie man will, so viel steht unter allen Umständen fest, daß sie glühende Freiheitskämpfer waren, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit und mit dem Einsatz ihres Lebens dem arbeitenden Volke helfen und dienen wollten. Allmählich erkannte jedoch sogar John Most, der sonst so sehr für die Propaganda der Tat eingetreten war, daß Attentate und ähnliche Aktionen nur einen zweifelhaften Wert haben. In neuerer Zeit haben sich diese Zweifel noch weiter vermehrt und heute propagiert man die Tat in unseren Kreisen in einem ganz anderen Sinn: Es hat sich allmählich der Gedanke durchgerungen, daß die Wurzel jeder Herrschaft in der wirtschaftlichen Machtstellung der Gewalthaber zu suchen ist, und daß infolgedessen das Proletariat hier den Hebel anzusetzen hat, um seine Selbstbefreiung durchzuführen. Das Streben der neueren anarcho-syndikalistischen Bewegung geht also dahin, die Massen zu großen und gewaltigen, wirtschaftlichen direkten Aktionen zu vereinen, um auf solche Weise die Macht der kapitalistischen Despotie zu brechen. Eine gewisse Richtung innerhalb der anarchistischen geht, obgleich sie ebenfalls für diese wirtschaftliche Kampfmethode eintritt und auf dem Boden der sozialen Revolution steht, sogar noch weiter und glaubt konsequenterweise die Gewalt an sich ebenso verwerfen zu müssen, wie den Krieg, den Militarismus und den Mord überhaupt. Sie verbindet mit dem Wort „Revolution“ nicht den Begriff von blutigen Waffenkämpfen.

Das Buch vom Rebellen Most ist außerordentlich reich an Einzelheiten und Aufschlüssen über die persönlichen materiellen und geistigen Verhältnisse einer großen, stürmisch bewegten Zeitepoche, die selbst dem viel Neues und Wertvolles bietet, der sie zum Teil miterlebt hat. Rudolf Rockers Buch ist ein förmliches Handbuch der herrschaftslosen sozialistischen Bewegung. Wir schöpfen aus dieser Darstellung des Most’schen Lebenslaufes die Gewißheit, daß die Opfer, die um der Idee halber gebracht wurden, dass die Energie, die für den Befreiungskampf aufgewendet ward, nicht umsonst waren und daß die Bewegung selbst von der wütendsten Reaktion nicht mehr vernichtet werden kann, sondern daß sie sich immer wieder mächtig erheben wird, bis zum endlichen Sieg. Wir möchten daher die Lektüre dieses trefflichen biographischen Werkes jedermann aufs beste empfehlen.

Fritz Oerter

Aus: Der Syndikalist, Nr. 9/1924.

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