April 1923 – Dokumente aus dem Syfo-Archiv
„Zum Kongreß der Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands.
Karfreitag und Ostersonnabend tagte der Kongress zu Berlin. Die Tagesordnung lautete: 1. Anarchismus und Nationalismus; 2. Geschäftsbericht über die Presse; 3. Die Stellung der Föderation der kommunistischen Anarchisten zur FAUD (A.-S.); 4. Neuwahlen.
Zuerst wurde mitgeteilt, dass der internationale Anarchistenkongress, der zu Ostern in Berlin stattfinden sollte, auf spätere Zeit verschoben wurde.
Zum ersten Punkt sprach Genosse R. Rocker. Es wäre unmöglich, den ausgezeichneten Vortrag des Genossen Rocker wiederzugeben, da er weit ausholte und in tiefdurchdachter Weise die Kulturbewegung des Anarchismus und die Unkultur des Nationalismus darstellte. Wenn man nur Teile des Vortrages wiederzugeben versuchen würde, könnte man die Wirkung desselben nur abschwächen, was nicht meine Absicht ist. Es würde sich sicher lohnen, diesen Vortrag als Propagandaschrift herauszugeben.
Es waren nur 26 Delegierte aus dem ganzen Reiche vertreten, eine geringe Anzahl für die anarchistische Bewegung ganz Deutschlands. Außerdem muss aber auch darauf hingewiesen werden – und das ist für die Syndikalisten nicht ganz bedeutungslos –, dass bei den Kameraden der Föderation der kommunistischen Anarchisten der Gedanke der Zusammenfassung aller antiautoritären, revolutionären Kräfte zur Einheitlichkeit noch nicht genügend entwickelt ist, wie es für den proletarischen Befreiungskampf notwendig wäre. Auch hier scheint meiner Meinung nach die Ansicht hochzukommen, dass man wohl Mitglied einer Gruppe sein möchte, aber für die Aufbringung von finanziellen Mitteln zur solidarischen Betätigung für Agitation und Organisation noch nicht das nötige Verständnis zeigt. Es macht sich sogar das Bestreben breit, jede, auch die freiwillige Organisation und Eingliederung abzulehnen, aus Furcht vor der Diktatur!
Der zweite Punkt über die Presse nahm einen ganzen Tag in Anspruch. Man schlug vor, einen Schriftleiter freizustellen, um das Organ „Der freie Arbeiter“ so umzubauen, dass die kommunistisch-anarchistische Bewegung in prinzipieller und agitatorischer Beziehung das größte Maß der Vollkommenheit erreicht. Der Antrag wurde im Prinzip angenommen und die Geschäftskommission beauftragt, die Frage praktisch zu lösen. Durch diesen Beschluss hat man sich von Voreingenommenheit und von den Vorurteilen befreit, die bisher gegen die Entschädigung der Genossen vorlagen, die ihre ganze Kraft und Zeit der Bewegung widmen. Man konnte es vielen Delegierten nachfühlen, dass sie nur schweren Herzens diesen Standpunkt einnahmen, schließlich siegte die Zweckmäßigkeit und die Notwendigkeit doch über die vorgefaßten Meinungen und Theorien.
Zu Punkt 3 sprach Genosse R. Oestreich. Nach seinen Ausführungen sind Anarchismus wie Syndikalismus in Deutschland von den Fäulnißerscheinungen, die sich in den letzten Jahren am Körper der heutigen Gesellschaftsordnung besonders bemerkbar machten, mit angefressen. Bei den kommunistischen Anarchisten herrscht Interesselosigkeit für unsere ideelle Grundanschauung. Das kommt daher, dass unsere Kameraden sich zuviel mit der syndikalistischen Bewegung als ihrer Interessengemeinschaft beschäftigten, obzwar diese Bewegung selbst nicht im geringsten die Weltanschauung des kommunistischen Anarchismus in sich trägt. Diesem Verhalten unserer Kameraden müsse ein Ende bereitet werden, es muss völlige Klarheit zwischen dem kommunistischen Anarchismus und dem Syndikalismus geschaffen, es müsse ausgesprochen werden, dass kommunistische Anarchisten in den syndikalistischen Organisationen solange nichts zu suchen haben, wie der Syndikalismus nur eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft bildet, die sich in Lohnstreiks und auch in Gemeinschaft mit den Zentralverbänden mehr auswirkt, als in direkten Aktionen, den Waffen des Anarchismus. Was tun unsere anarchistischen Genossen für unsere Bewegung? Gar nichts! Sie haben sich ihrer anarchistischen Anschauung entfremdet. Wir Anarchisten müssen tiefer in die Massen eindringen, leider muss aber gesagt werden, dass sich unsere befähigten Kameraden fast nur noch mit ihrer ganzen Person für die syndikalistische Bewegung einsetzen, statt sich für die Redaktion des „Freien Arbeiters“ zur Verfügung zu stellen. Ihnen ist unsere Bewegung zu bedeutungslos, zu klein, und sie verabsäumen es, sie durch ihre Mitarbeit zu verstärken und sie aufs neue kraftvoller zu gestalten.
Dann schritt Gen. Oestreich zur Kritik der syndikalistischen Bewegung. Als auf dem 12. Kongress der FAUD die Prinzipienerklärung Rockers angenommen wurde, hieß es, der Syndikalismus und der kommunistische Anarchismus sind eins, die alten Leiden des Nichtverstehens schienen beseitigt. Aber es kam anders. Die syndikalistische Bewegung trug den Massen Rechnung, setzte sich immer ausschließlicher für die wirtschaftlichen Interessen der Massen ein, unter Preisgabe der Prinzipien. Daher trat auch eine gewisse Stagnation der Bewegung ein. Schuld daran tragen zum großen Teil die Genossen, die an leitender Stelle standen und nichts taten, um dieser Rückentwicklung entgegenzuwirken. In Rheinland-Westfalen hat die Mehrzahl der Mitglieder der FAUD (A.-S.) keine Ahnung von den Grundsätzen des Syndikalismus. Der Syndikalismus bringt das Proletariat der sozialen Revolution nicht näher. Auch der internationale Syndikalistenkongress, zwischen Weihnachten und Neujahr zu Berlin, beweist das. Man nahm auf diesem Kongress keine prinzipielle Stellung ein gegen die Einrichtungen des heutigen Klassenstaates, das geht deutlich aus den Verhandlungen hervor. Es muss daher ausgesprochen werden, dass der kommunistische Anarchismus höhere Ziele hat als der Syndikalismus. Wir halten die geistige Einstellung für wichtiger als die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen. Der Anarchismus verkörpert eine Ideengemeinschaft, keine Interessengemeinschaft. Zuletzt verlangt Oestreich noch eine reinliche Scheidung zwischen den Syndikalisten und den kommunistischen Anarchisten, da durch diese Scheidung der Anarchismus nur gewinnen könne. Er legte eine Resolution vor, die diese Ausführungen gedrängt zusammenfasst.
Darauf setzte eine Diskussion ein, die 6 ½ Stunden dauerte. Sämtliche Diskussionsredner traten den Anschauungen Oestreichs entgegen. Sie vertraten den Standpunkt, dass die kommunistischen Anarchisten sich in der syndikalistischen Bewegung (FAUD AS) ebenso betätigen müssten, wie in der Föderation der kommunistischen Anarchisten, da die FAUD (A.-S.) analog ihrem föderalistischen Aufbau und ihrer prinzipiellen Einstellung zu einer Trägerin der Ideen des kommunistischen Anarchismus innerhalb des revolutionären Klassenkampfes geworden ist. Wenn unsere Ideen sich in den Massen auswirken sollen, dann ist die Mitarbeit aller Kameraden in der FAUD (A.-S.) Gebot der Stunde. Im übrigen müsse man zugestehen, dass die Kampfesformen des kommunistischen Anarchismus in der syndikalistischen Bewegung mehr als irgendwo zum Ausdruck kommen. Es sei die Pflicht aller Anarchisten, schon um ihrer selbst willen, mit den syndikalistischen Organisationen die engste Verbindung aufrechtzuerhalten, alles Trennende zurückzustellen und alles Vereinende in den Vordergrund zu stellen. Der kommunistische Anarchismus kann sich nur dann in seiner ganzen Tiefe auswirken, wenn er von möglichst breiten Massen getragen wird. Genosse Büttner-Leipzig legte eine Resolution vor, in der zum Ausdruck kommt, dass es die Pflicht aller kommunistischen Anarchisten sei, mit allen Kräften mitzuwirken in der FAUD für den ökonomischen Aufbau. Außerdem sei aber die Stärkung der selbständigen anarchistischen Organisation eine Notwendigkeit.
Die Resolution Oestreich wie die Büttners bekamen die Zustimmung des Kongresses.
Wenn man das Ergebnis des Kongresses zusammenfasst, dann kann gesagt werden, dass sowohl die Anarchisten wie die Syndikalisten zufrieden sein können. Beide Bewegungen ergänzen sich in ihrem Ziele: die Durchführung der sozialen Revolution. Es liegt nun an allen Kameraden sowohl innerhalb der Föderation der kommunistischen Anarchisten, wie in der FAUD (A.-S.), in gemeinsamer Arbeit im Sinne der kommunistisch-anarchistischen Weltanschauung zu wirken.
R. S.
Anarchismus und Syndikalismus [Erwiderung der Redaktion des „Syndikalist“]
Im „Syndikalist“ ist zu diesem Thema seitens der Redaktion schon Stellung genommen worden (siehe „Syndikalist“ Nr. 37 vom Jahre 1921) und wir wollen diese Ansichten nicht wiederkauen. Da aber von den Genossen in der Föderation der kommunistischen Anarchisten auf ihrem Kongress die Frage erneut aufgerollt wurde, halten wir es für unsere Pflicht, den Mitgliedern der FAUD (A.-S.) unsere Stellungnahme noch einmal klarzulegen.
Jede Kritik, die Mißstände aufdeckt und Wege weist, dieselben zu beseitigen, ist uns willkommen. Voraussetzung ist aber, dass die Kritik sich an den Tatbestand hält. Wenn nun Genosse R. Oestreich die syndikalistische Bewegung als reine Interessengemeinschaft hinstellt, die nicht über den Rahmen der heutigen Gesellschaft hinausgeht, dann beweist er damit nur, dass er das Wesen des Syndikalismus noch nicht erfasst hat. Der Syndikalismus, insbesondere wie er sich in der FAUD (A.-S.) herauskristallisiert hat, führt wohl in erster Linie den Klassenkampf auf wirtschaftlichem Gebiet mit den Mitteln der direkten Aktion – und Genosse Oestreich wird sicherlich nicht behaupten wollen, dass dieser Kampf in unseren Tagen unwichtig ist – außerdem aber werden fast alle geistigen und kulturellen Gebiete, die Bezug nehmen auf die Befreiung der Menschheit, von der FAUD (A.-S.) sowohl in den Organisationen als auch in dem Organe „Der Syndikalist“ im anarchistischen Sinne beackert. Dass unser Bestreben noch nicht überall, in allen Ortsgruppen, so durchgedrungen ist, wie wir alle es wünschen, ist sicherlich nicht auf das Konto des Syndikalismus zu schreiben, sondern vielmehr auf die langsame Durchsickerung der anarchistischen Ideen in dem deutschen Volke. Leitende Genossen für eine vermeintliche Stagnation verantwortlich zu machen, zeugt für Genossen R. Oestreich keineswegs von tiefem Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Selbst angenommen, es verhält sich so, wie Genosse Oestreich behauptet, dass in Rheinland-Westfalen eine große Anzahl der Mitglieder noch nicht viel vom Wesen des Syndikalismus weiß, dann wäre es erst recht die Pflicht der aufgeklärten Genossen und der klaren Köpfe, mit allen Kräften Agitation und Aufklärung zu betreiben. Daraus aber den Schluss zu ziehen: weg von dem Syndikalismus, das ist wahrlich kein Zeichen von starker Logik.
Man kann eine andere Auffassung über das Wesen des Syndikalismus und über die Tätigkeit der Anarchisten haben als Genosse Oestreich, man braucht deshalb keineswegs ein schlechter Anarchist zu sein. Kropotkin bedauerte in einem Gespräch im Jahre 1920 mir gegenüber, dass er nicht mehr jung und kräftig genug ist, um in den großen Arbeiterorganisationen Westeuropas wirken zu können. Wir sind der Meinung, dass der Anarchismus in der gesamten Arbeiterbewegung Deutschlands keine bessere Pflegestätte findet, als gerade in der FAUD (A.-S.). Wenn es aber Anarchisten gibt, denen der Rahmen der FAUD (A.-S.) zu groß ist, dann können sie sich auf kleinere Zirkel beschränken; wem er aber zu klein ist, der kann sich in die Zentralverbände begeben. Nicht darauf kommt es an, ob dieser oder jener Anarchist innerhalb der FAUD (A.-S) wirkt, sondern darauf, ob die Grundsätze der FAUD von den Ideen des kommunistischen Anarchismus getragen sind, und ob ihre Propaganda und Agitation darauf angelegt ist. Als Richter hierüber können wir aber keinerlei Stimmen von außen anerkennen, sondern nur die Genossen in unseren eigenen Reihen. Der Anarcho-Syndikalismus ist autonom. Einstweilen begnügen wir uns mit diesen kurzen Bemerkungen. Sollte jedoch diese Frage noch öfter auftauchen, dann werden wir ausführlicher dazu Stellung nehmen.
Die Redaktion“ [Schreiber ist wahrscheinlich Augustin Souchy gewesen]
Beide Texte aus: „Der Syndikalist“, Nr. 15/1923.