Vor 100 Jahren

Dezember 2022 – Dokumente aus dem Syfo-Archiv

Die Orientierung des Syndikalismus

Wie es für das Studium und Verständnis der revolutionären Probleme in internationaler Hinsicht unmöglich ist, den Fragen auszuweichen, vor die unsere eigene Bewegung (in ihren charakteristischen Linien, dem Machtgerade der kämpfenden Kräfte, der Qualität der Elemente, die in allen Arten von Streitigkeiten sich auswirken) uns stellt, so müssen wir auch unsere besondere Lage im Auge behalten auf jenem Gebiete, auf dem der Tageskampf sich abspielt. Verzicht leisten auf unsere geistige Erbschaft, das Feld räumen vor dem Anmarsch von Theorien, die unsere Anstrengungen verneinen und unsere Individualität unterdrücken, aufhören zu sein, was wir sind und den Opportunisten das Feld überlassen, das ist nicht nur unvernünftig, sondern zugleich auch die stillschweigende Hinnahme unserer eigenen Niederlage.

Der Anarchismus als umstürzende Macht wird nicht repräsentiert von disziplinierten Armeen, von großen Massen, die von ihren Führern ‚strategisch’ geleitet werden. Wie kommt es also, dass die Einheitsvoreingenommenheit in den Köpfen von Anarchisten spukt? Die Einheit der Arbeiterschaft in ihrer allgemeinen, absoluten und mechanischen Form, wie die marxistischen Gruppen sie begünstigen, die ist nur möglich unter der Annahme eines Systems der Disziplin und der Autorität der Regierung: der Schaffung eines embryonalen Staates im Schoße des kapitalistischen.

Können Anarchisten eine derartige Organisation annehmen und auf ihr die Eroberung ihrer Freiheit aufbauen, ohne ihre freiheitlichen Prinzipien aufzugeben?

Das, was die Anarchisten der ganzen Welt – und hauptsächlich diejenigen, die innerhalb der Arbeiterorganisationen sich betätigen – erkennen sollten, ist, dass von ihrer Haltung als Revolutionäre die Orientierung der proletarischen Massen abhängt, die heute dem Einflusse von Ereignissen ausgesetzt sind, die von berufsmäßigen Politikern zu deren Vorteil ausgenutzt werden. Bis die Anarchisten in den Syndikaten nicht voll und ganz Anarchisten sind, bis sie innerhalb derselben dazu übergehen und dem Gedeihen von indifferenten negativen Ideen entgegentreten: bis zu diesem Zeitpunkt wird die Orientierung des Syndikalismus nicht wahrhaft revolutionär sein. Es ist notwendig, klar und eindeutig festzulegen, was wir unter Revolution verstehen, bis zu welchem Grade das Wort ‚revolutionär’ positiven Inhalt besitzt. Die Tatsache der Anerkennung der Gewaltaktion gegen den Kapitalismus, des bewaffneten Aufstandes des Proletariats für die Eroberung der politischen Macht, das alles besagt kaum, dass die sogenannten Kommunisten ihre Ideologie hinsichtlich der Autorität der Ziele, die sie mit ihrer Revolution verfolgen, geändert haben. Nein, die Mittel sind andere, aber das Ziel bleibt immer dasselbe. Und in diesem Ziel – die Eroberung des Staates – liegt die absolute Verneinung der revolutionären Bestrebungen und Anstrengungen.

Die Arbeiterklasse steht in demselben Moment, in dem sie daran geht, sich zu organisieren, um gegen ihre direkten Ausbeuter zu kämpfen, vor dem gesamten Problem ihrer Emanzipation. Und dieses Problem darf nicht beschränkt bleiben auf die Eroberung materieller Verbesserungen.

Die Ideen sind die Triebkräfte aller menschlichen Bewegungen und in den Ideen liegt das wahrhafte soziale Problem. Kann man im Syndikalismus dem Ideenkampfe ausweichen? Nein, denn der Syndikalismus ist ein Aktionsmittel, er ist ein Kampfmittel in den Händen des Proletariats und ist unterworfen seinen Orientierungen, dem Einflusse der Ideen, die im Bewusstsein des Arbeiters ihre geistige Welt aufbauen.

Um den Syndikalismus von dem Einfluß autoritärer kommunistischer Politiker zu befreien, um der revolutionären Bewegung eine Orientierung zu geben, die ihr kommende Angriffe, zukünftiges Vorwärtsdringen eröffnet, ist es notwendig, dass die Anarchisten endlich die unitarische Voreingenommenheit auf der Seite liegen lassen.

Es geht nicht darum, eine Armee vor der Niederlage zu retten, sondern darum, revolutionäre Stoßgruppen und Guerillatrupps auf ihrem vorgeschrittenen Posten zu erhalten. Und wenn der Syndikalismus falsche Wege einschlägt, sich orientieren will in einem Labyrinth von Widersprüchen, dann ist es notwendig, einen direkten Weg zu zeichnen. Werden diejenigen Anarchisten hierzu fähig sein, die da fürchten, den Anarchismus in die Syndikate hineinzutragen? Liegt die Rettung des revolutionären Syndikalismus in der Unabhängigkeit von der Arbeiterbewegung, besser gesagt, in dem Ausschluß aller Ideen aus den syndikalistischen Organisationen?

In dieser vernachlässigten Tendenz sehen wir die größte Gefahr für die revolutionäre Bewegung. Die Arbeiterklasse vom Einflusse Moskaus zu befreien, um sie den Ereignissen zu überlassen, ist gleichbedeutend damit, sie zu verdammen, sich immer im Kreise herumzudrehen. Denn der Syndikalismus ist an sich weder ein revolutionäres Prinzip, eine vollkommene Auffassung, die fähig wäre, dem Proletariat die notwendigen [Orientierungen] zu geben, noch ist es möglich, dem Ansturm von Ideen, reformistischen sowohl wie revolutionären, in den Syndikaten auszuweichen.

Der Syndikalismus ist das, was die Elemente sind, die in allen Arbeiterorganisationen vorherrschen.

Und was die Anarchisten angeht, so ist es nicht die ‚Unabhängigkeit’ des Syndikalismus zu sichern, sondern sich eine syndikalistische Bewegung zu schaffen, die die Eigentümlichkeiten ihrer revolutionären Aktion annimmt sich einverstanden erklärt, mit den Theorien, der Taktik des Anarchismus.

Für Syndikalisten ist [es] notwendig, zu gestehen, dass die freiheitlichen Elemente eine mächtige Opposition gegenüber den Führern der Roten Gewerkschafts-Internationale bilden. Die wahrhafte Kraft des revolutionären Syndikalismus liegt in den Anarchisten, denn die Ideen sind es, die zu Taten drängen und den unvermeidlichen Ansturm tragen. Es ist gewiß wahr, wenn das Abseitsstehen von Moskau seinen Ursprung in dem Unterordnen der RGI unter die Kommunistische Internationale hätte, dann würde es den Bolschewisten leicht fallen, dieses Hindernis aus dem Wege zu räumen und die Einheit herzustellen, die sie so sehr wünschten.

Losowsky sagte in seinem Kommentar zu den Resolutionen des Kongresses von St. Etienne sehr klar, dass sie nicht geneigt sind, alle Punkte der Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und den revolutionären Syndikalisten in Betracht zu ziehen.

Aber leicht ist es, in diesen ‚Konzessionen’, die Losowsky den Abtrünnigen anbietet, die wahrhaften Vorschläge der Führer der III. Internationale zu entdecken. Diese sind dahin gekommen, diese ‚Unabhängigkeit des Syndikalismus’ anzunehmen, vorausgesetzt, dass die Anarchisten in den Syndikaten aufhören, Anarchisten zu sein. Versteht man nun, in welcher Form der wahrhafte Kampf sich abspielt? Die Ideen sind es, die den Sturm hervorrufen: der Syndikalismus ist nur die Szenerie, in der er sich abspielt.

Beklagenswert wäre es, wenn die Repräsentanten des revolutionären Syndikalismus im kommenden Kongreß zu Berlin die weittragende Bedeutung ihres Standpunktes, außerhalb der Roten Gewerkschafts-Internationale und die Wichtigkeit ihrer Opposition gegenüber der Politik der Diktatoren nicht voll und ganz erfassten.

Dieser Artikel stammt aus der anarchistischen Zeitung Argentiniens ‚La Protesta’. Es wäre natürlich verfehlt, diese Betrachtungsweise auf andere Länder zu übertragen. Als ‚Syndikalismus’ ist in den romanischen Ländern die Gewerkschaftsbewegung schlechthin bezeichnet worden. Und da man sah, dass es innerhalb der Gewerkschaftsbewegung reformistische und sogar konservative Tendenzen gab, hatte man ein Recht, sich vom Standpunkt des Revolutionärs und des Anarchismus gegen diese Tendenzen zu wenden. In diesem Sinne ist es also zu verstehen, wenn an einer Stelle des Artikels gesagt wird, ‚der Syndikalismus ist an sich kein revolutionäres Prinzip’. Dies trifft zu auf die Gewerkschaftsbewegung, deren Grundsätze und theoretischen Erkenntnisse zur Durchführung der sozialen Revolution eine politische Parteiorganisation glauben zu benötigen, wie etwa die Zentralverbände oder die kommunistischen Gewerkschaften auch hier in Deutschland.

Wenn aber eine syndikalistische Gewerkschaftsbewegung sich eine Prinzipienerklärung gibt, die im Einklang ist mit den Lehren des kommunistischen Anarchismus, wenn ferner Mitglieder einer politischen Partei dieser Bewegung nicht beitreten dürfen, dann fällt das Kriterium, das von den argentinischen Kameraden angelegt wird, bei der FAUD (S) von vornherein weg. Wir haben diesen Artikel doch im ‚Syndikalist’ aufgenommen, um unseren Lesern zu zeigen, wie die Verhältnisse und die geistige Einstellung in der revolutionären Bewegung Argentiniens ist.

Die Redaktion“

Der Syndikalist, Nr. 52/1922.

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