Auch in Rumänien hat der Anarchismus eine lange Tradition, die über viele Jahrzehnte verschüttet war. Im folgenden Beitrag begibt sich Martin Veith aus dem Institut für Syndikalismusforschung auf Spurensuche zu den Anfängen anarchistischer Publizistik in den Fürstentümern Moldau und Walachei. Der Artikel erschien in der letzten Ausgabe der BUNĂ, Zeitschrift für Befreiung & Emanzipation – nicht nur in Rumänien.
Das Foto zeigt es: 1891 erschien die erste Ausgabe der „Răzvrătirea“, ein Organ des kommunistischen Anarchismus, wie es im Untertitel heißt. Die in Focșani, (etwa 180 Kilometer nordöstlich von Bukarest gelegene Stadt) erschienene Zeitschrift trug im Namen bereits das Mittel, mit dem die Herausgeber eine freie, auf dem anarchistischen Kommunismus basierende Gesellschaft erreichen wollten: Durch Rebellion oder Aufstand, so lautet die wohl treffendste Übersetzung des Namens der Zeitung ins Deutsche. 1891 bestand das Königreich Rumänien aus den Regionen und Fürstentümern Walachei und Moldau und das Land zählte etwas mehr als 5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Die Bevölkerung lebte unter einer despotischen Feudalherrschaft. Bauern waren faktisch Leibeigene der Landbesitzer, der Bojaren. Gegen die hungernden und oftmals Zahlungs-säumigen Bauern hatten die Feudalherren das Recht der „körperlichen Züchtigung“ und der Pfändung der letzten Habseligkeiten. Die Bojaren vollzogen beides oft durch ihre Steuereintreiber und die Polizei. Die Orthodoxe Kirche gab ihren Segen zu diesem als „gottgegebene Ordnung“ bezeichneten Unrecht. Diese Zustände zu beenden, schickten sich Anarchisten an. Sie wirkten aufklärerisch unter den Landarbeitern und propagierten eine menschenwürdige Zukunftsgesellschaft ohne die bestehenden Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnisse. So endet der Leitartikel der ersten Ausgabe mit den konkreten Zielbeschreibungen: „Anstelle des Privateigentums gemeinschaftliches Eigentum, anstelle von Herrschaft: Anarchie. Es lebe der Kommunismus. Es lebe die Anarchie!“
Um die Zeitung unter die Bauern zu bringen, zogen Revolutionäre einzeln und in Gruppen in die Dörfer. Dort stellten sie anarchistische Grundüberzeugungen zur Debatte. Sie forderten öffentlich „Land für die Bauern“ und damit die Enteignung der Bojaren. Des Lesens mächtig waren aber damals nur wenige aus den arbeitenden, ausgebeuteten Schichten und so war die mündliche Form der Agitation elementar, um diese mit den revolutionären Ideen zu erreichen. 1899 lag die offizielle Analphabetenrate bei 78%. Die „Volksbildung“ und Alphabetisierung wurden so zu einem zentralen Anliegen der im entstehen begriffenen Arbeiterbewegung. Doch der Staat und die wohlhabenden Kreise im Land wollten unter keinen Umständen etwas am Status Quo, dem ungerechten Zustand der Gesellschaft verändern. Sie reagierten mit Verboten und Gewalt auf die Initiativen zur Befreiung von Ausbeutung und Abhängigkeiten. Schon 1889 hatte die Regierung ein Gesetz erlassen, das die „Propagierung für Land unter den Bauern“ verbot und unter Strafe stellte. Es richtete sich ausdrücklich gegen die Entstehung einer revolutionären (Arbeiter)-Bewegung in Rumänien. Die herrschende „Konservative Partei“ führte in ihrer Argumentation für dieses Gesetz aus: „Die Seuche des modernen Proletariats, das die westlichen industriellen Staaten so schrecklich erschüttert und heimsucht, soll nicht über das rumänische Land kommen“. Doch die Agitation der revolutionären Kreise ließ nicht nach. Weiterhin zogen Anarchisten und Sozialisten zu den Dörfern und organisierten Versammlungen und Debatten. 1893 stellte die Regierung unter dem Erzkonservativen Ministerpräsidenten Lascăr Catargiu (1823-1899) eine bewaffnete Landpolizei, die Landgendarmerie, auf. Sie verschärfte durch diese, teils berittenen Einheiten, die Repression gegen Bauern und Sozialisten. Anarchisten, Sozialisten und Bauern wurden in Polizeiwachen verschleppt und gefoltert. Es kam zu schwersten Verletzungen durch Säbel und Pistolen.
Doch fanden sich 1891, ebenso wie heute, nicht nur in den Kreisen der reichen Landbesitzer, der Bojaren, der Wohlhabenden, der Nationalisten und unter den Anhängern der Monarchie Gegner und Feinde des Anarchismus und einer solidarischen Gesellschaft. Es entwickelte sich zudem in der Arbeiterbewegung eine marxistisch-sozialdemokratische Strömung, die in der deutschen SPD ein Vorbild sah. Diese Strömung versuchte sich durch die Aufweichung und Abkehr von grundlegenden Positionen gegenüber den staatlichen Autoritäten schwerer angreifbar zu machen, um der permanenten staatlichen Repression zu entgehen. Bei ihr war keine Rede mehr von der Enteignung und Vergesellschaftung der großen Ländereien. Ihr Zwischenziel war die Schaffung einer sozialdemokratischen Wahlpartei. Ein Vorhaben, das aufgrund des ungerechten rumänischen Wahlgesetzes und der Abkehr von den Bauern und der Agitation unter der damaligen gesellschaftlichen Minderheit der Lohnarbeiter nur wenig Erfolg brachte. Doch wurde die 1893 gegründete „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rumäniens“ zu einem Sammelbecken aller revolutionären Strömungen. Einer der ideologischen Köpfe der Sozialdemokraten war der vormalige Anarchist Ion Nadejde (1854-1928). In Schriften und Reden wandte er sich gegen den in den revolutionären Kreisen Rumäniens vorherrschenden Anarchismus. Dabei verließ er schnell den Boden einer fairen, mit Argumenten geführten Auseinandersetzung. Er begann politische Intrigen gegen anerkannte, aktive und populäre Anarchisten, verleumdete diese und erfand und manipulierte Entscheidungen, wie den „Ausschluss“ des bekannten Anarchisten Panait Mușoiu (1864-1944) aus der „Arbeiterbewegung“. Nadejde war, wie weitere führende Sozialdemokraten auch, zu nicht geringen Teilen von einem negativen persönlichen Ehrgeiz getrieben. Als die Nationalliberale Partei ihm und anderen 1899 in Geheimverhandlungen Posten und bezahlte Mandate versprach, da wechselte er mit etlichen weiteren sozialdemokratischen Berufsfunktionären die Seiten. Die Sozialdemokratische Partei musste sich auflösen. Der Verrat und das Versagen der sozialdemokratischen Marxisten führten zu einem neuen Aufschwung des Anarchismus und schließlich zur Entfaltung des revolutionären Syndikalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den Arbeiterinnen und Arbeitern.
Was wollten die Anarchisten um die „Răzvrătirea“?
In ihrer ersten Ausgabe vom 2. August 1891 erklärte die Redaktion der Zeitung (verantwortlich zeichnete Radu Pogor-Denciu, über den mir keine weiteren persönlichen Angaben bekannt sind) den Leserinnen und Lesern ihre Vorstellungen einer anarchistischen Gesellschaft sowie ihre anarchistische Grundüberzeugungen. Die Beiträge sind im Sprachgebrauch jener lang zurückliegenden Zeit verfasst und mitunter sehr poetisch. Oft ist die Rede von Glück und Unglück. Sie sind in einer einfachen und gut verständlichen Sprache verfasst. Immer wieder wird auf Alltagsgegebenheiten verwiesen und die Nützlichkeit von Solidarität hervorgehoben. In den Ausgaben enthalten sind u.a. Beiträge zur „Propaganda der Tat“, einer Vergeltungsstrategie anarchistischer Arbeiter gegen staatlichen Terror und staatliche Morde an streikenden und revolutionären Arbeitern, die in dieser Zeit in Europa (darunter auch in Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien) zur Anwendung kam und die Arbeiterinnen und Arbeiter zu spontanen Aufständen und schließlich zur sozialen Revolution ermuntern sollte. Sie sollte die Angreifbarkeit und Verwundbarkeit von Staat, herrschender Klasse, Polizei, Justiz und Militär offenlegen und diese für den Mord und die Repression an Arbeitern und Anarchisten bestrafen. Die „Propaganda der Tat“ erwies sich als eine Sackgasse, denn die erhofften Massenaktionen blieben aus. Es existierten aber durchaus größere Sympathien unter den Arbeiterinnen und Arbeitern für die selbstlos handelnden und ihr eigenes Leben riskierenden und gebenden Anhänger dieser Strategie. Heute werden noch immer in Frankreich Lieder über sie gesungen und der Anarchist Ravachol (1859–1892) hochleben gelassen. Ravachol hatte aus Vergeltung gegen die Ermordung, Verletzung und Verhaftung von Arbeitern und Anarchisten am 1. Mai 1891 in den französischen Städten Clichy und Fourmies Bomben in der Kaserne der dafür verantwortlichen Militäreinheit und den Häusern des verantwortlichen Richters und Staatsanwalts zur Explosion gebracht, die Sachschäden anrichteten. Er wurde gefasst und durch die Guillotine hingerichtet. Seine letzten Worte vor der Hinrichtung lauteten: „Es lebe die Anarchie“. In der „Răzvrătirea“ wurde Verständnis für diese Strategie gezeigt und bemerkt, dass sie großen Zuspruch unter den Arbeitern finde. Damit bezog sich die Zeitung namentlich auf von Panait Mușoiu abgegebene Äußerungen, der als Redakteur der „Muncă“ („Die Arbeit“) erklärte, die „Propaganda der Tat“ fände keine Verankerung unter den Arbeitern. Seine Auffassung wurde in einem langen Artikel ebenso zurückgewiesen wie die Äußerungen des ehemaligen Anarchisten Constantin Mille (1861-1927), der nun als Sozialdemokrat die Zeitung „Adevărul“ („Die Wahrheit“) herausgab. Mille bekämpfte in seiner weit verbreiteten Zeitung die anarchistischen Ideen grundsätzlich und oft in unfairer Weise. Mușoiu selbst publizierte wenige Jahre später die Broschüre „Wie erklären sich die Anarchisten“, in welcher er die Erklärungen anarchistischer Attentäter versammelte und so deren Beweggründe darlegte. In Bukarest organisierte er 1898 mit seinen Genossen zur Vorstellung der Broschüre eine öffentliche Versammlung, die sehr gut besucht war. Die „Propaganda der Tat“ war eine Strategie, über die in sozialistischen, anarchistischen und Arbeiterkreisen einige Jahre intensiv diskutiert wurde.
In einem ausführlichen Artikel wurden die politischen und sozialen Grundüberzeugungen der Redaktion als „Zusammenfassung der anarcho-kommunistischen Prinzipien“ dargelegt.
Durch alle Ausgaben zieht sich die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Marxisten und Sozialdemokraten. Ihnen wurde abgesprochen Revolutionäre zu sein und vorgeworfen nur selbst an die Fleischtöpfe der Macht gelangen zu wollen. Eine deutliche Gegenüberstellung von föderalistischen, basisdemokratischen anarchistischen Prinzipien und von oben bestimmten, zentralistischen Strukturen der Marxisten finden sich noch nicht ausformuliert. Die Schädlichkeit und Wankelmütigkeit des „Führertums“ und einer Obrigkeit wurde aber deutlich benannt.
Neben dem Fokus auf die soziale Realität in Rumänien ist sie weiterhin ein Beleg dafür, dass die rumänischen Anarchisten schon zu dieser Zeit international vernetzt waren. So findet sich ein Bericht über den Anarchistischen Kongress in Brüssel von 1891, zu dem international eingeladen worden war. Der Kongressbericht ist nicht namentlich unterzeichnet.
In jeder Ausgabe erschienen Kurz-Nachrichten über Kämpfe und Ereignisse aus der anarchistischen und Arbeiterbewegung in anderen Ländern. Dabei wurden die Schwerpunkte auf Italien, Frankreich und Deutschland gelegt.
Jede Ausgabe enthält zudem einen Bereich für den konkreten Austausch mit den Leserinnen und Lesern und Mitteilungen der Redaktion an konkrete, meist anonymisierte, Personen und Genossen.
Bei den Herausgebern der „Răzvrătirea“handelte es sich, wie in dieser Zeit oft unter den Anarchisten, um leidenschaftliche und selbstlose, wahrscheinlich jugendliche Idealisten, die ihr Leben der Sache der Befreiung der Ausgebeuteten verschrieben hatten. In ihrem Leitartikel der ersten Ausgabe „Programm“ schreiben sie über sich: „Wir, wir Anarchisten sind es, die das Stückchen Brot, das wir essen, und dieses Stückchen an Freiheit, das wir noch genießen, aufs Spiel setzen. Wir werden unser Leben opfern, wir werden uns ins Feuer der Schlacht werfen, denn die Sache des Volkes ist eine heilige Sache und wieviele Märtyrer diese auch fordern wird, sie wird sie unter uns finden. Unser Herz schmerzt, unser Brot ist mit Tränen getränkt. Wir weinen mit denen, die leiden, weil wir auch leiden. Vereint werden wir für unsere Unabhängigkeit und das Erreichen unseres Ideals kämpfen.“
Von der „Răzvrătirea“ erschienen vier Ausgaben (die Nummern 1, 3 und 4 liegen dem Verfasser vor).
Schon zuvor anarchistische Publizistik in Rumänien
Erste anarchistische Veröffentlichungen erschienen in Rumänien nach aktuellem Kenntnisstand bereits in den 1880er Jahren. Die grundlegende Schrift des russischen Anarchisten und Revolutionärs Michail Bakunin, „Gott und der Staat“, wurde erstmalig 1884 in Rumänien verlegt und dies ebenfalls in Focșani, das für diese Zeit als ein Zentrum publizistischer anarchistischer Aktivität angesehen werden kann. Im selben Jahr wie die Răzvrătirea erschien die erste Ausgabe in der Broschürenreihe der „Biblioteca Anarhistă“. Sie enthielt mindestens drei Schriften des bekannten italienischen Anarchisten Errico Malatesta (1853-1932). Ihr Herausgeber war der damals gerade einmal 17jährige Panait Zosin (1873-1942). Zusammen mit Panait Mușoiu gehörte er zu den aktivsten Propagandisten eines herrschaftslosen Sozialismus in der entstehenden Arbeiterbewegung, die in ihren Anfängen in Rumänien stärker von anarchistischen Vorstellungen beeinflusst war als von marxistischen. Die Agitation der beiden Männer war fruchtbar und leidenschaftlich. Gemeinsam organisierten sie 1892 eine von der Präfektur verbotene Demonstration zum 1. Mai in der Stadt Botoșani. Tagelöhner, Handwerker, Landarbeiter und zahlreiche Schülerinnen und Schüler setzten sich über das Verbot hinweg und demonstrierten durch die von der gewalttätigen Polizei und dem ebenso brutalen Militär besetzte Stadt. Im Vorfeld der Demonstration war es zu zahlreichen Verhaftungen und Misshandlungen von Sozialisten und Anarchisten gekommen. Die staatliche Repression zwang beide zum Verlassen der Stadt. Nach einer gemeinsamen Zeit an der Freien Universität von Brüssel zog es Zosin nach Iași und Mușoiu nach Bukarest. Sie arbeiteten weiterhin konstruktiv und freundschaftlich zusammen. Aus Zosin wurde schließlich ein Mediziner und Psychiater, der seinen politischen Schwerpunkt auf den Kampf gegen Religion und Aberglauben und für Wissenschaft, Atheismus und Rationalität legte. Panait Mușoiu ist der bis heute produktivste anarchistische Publizist und Verleger Rumäniens. Von 1900 bis zum Eintritt Rumäniens in den Ersten Weltkrieg 1916 publizierte er die anarchistische Monatsschrift „Revista Ideei“. Noch bis Ende der 1930er Jahre verlegte er emanzipatorische Bücher und Broschüren. Ab November 1885 bis Februar 1886 erschien in Bukarest die von Constantin A. Filitis herausgegeben Zeitschrift „Viitorul – Revista Ideilor Radicale Inaintate“ („Die Zukunft – Zeitschrift für radikale fortschrittliche Ideen“). Sie hatte einen intellektuellen Anspruch ohne unverständlich zu sein und behandelte eine Vielzahl fortschrittlicher Ideen, wobei ihr der Anarchismus am nächsten Stand. Auch sie berichtete über die weltweite anarchistische Bewegung und deren Verfolgung und Unterdrückung durch die Regierungen verschiedener Staaten. Sie richtete sich an Arbeiter, Handwerker und alle geistig offenen Menschen. Sie behandelte Wirtschaftsfragen u.a. unter dem Gesichtspunkt der gleichberechtigten Verteilung von Erträgen. Auch der Arbeitsschutz nahm eine relevante Stellung ein und als eine der ersten rumänischen Zeitschriften trat sie gegen einen Zentralstaat und für lokale gesellschaftliche Autonomie ein. Bemerkenswert ist darüber hinaus der konsequente Kampf gegen die geistige Unterdrückung durch die Orthodoxe Kirche und die Religion sowie die Forderung der Abschaffung jeder finanziellen und materiellen Unterstützung für diese durch den Staat, sprich durch die Steuerabgaben der Bevölkerung.
Zum Vertiefen der Kenntnisse über die Geschichte der anarchistischen Publizistik in Rumänien sei auf das Kapitel „Anarchismus und Syndikalismus“ im Buch von Martin Veith: Unbeugsam – Ein Pionier des rumänischen Anarchismus – Panait Mușoiu (Edition AV, Lich, 2013) verwiesen.
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