Juli 1922 – Dokumente aus dem Syfo-Archiv
[Agitation im Westerwald]
Von der Agitation

Wer bisher der Annahme war, dass die Schwerindustrie in der Hauptsache unser Arbeitsfeld ist, der dürfte in absehbarer Zeit sehr angenehm enttäuscht werden. Sind wir in den großen Industriezentren heute schon ein nicht mehr zu unterschätzender Faktor, so geht es auch in den ländlichen Bezirken, dort, wo der Mensch noch nicht vollständig dem Boden entwurzelt, wo er noch einige Morgen Land sein eigen nennt, vorwärts und aufwärts.
Diesmal war es der Westerwald – Wirges – wo man dringend nach der öffentlichen Versammlung verlangte. Neuwied desgleichen, außerdem noch einige Ortschaften in der Eifel. In Wirges, wo ein alter Kämpe unserer Idee im Verein mit guten Kameraden den Boden beackert, konnte ich zum Tage meiner Ankunft in einer öffentlichen Belegschaftsversammlung, Arbeitsgemeinschaft, Schlichtungsordnung und sonstigen Zentralunfug gebührend kennzeichnen; um am nächsten Abend in gut besuchter Versammlung über die Aufgaben der Gewerkschaften zu referieren: Der überaus gute Verlauf konnte nicht einmal durch einen angeheiterten kommunistischen Gewerkschaftler gestört werden. Über derartiges darf man sich dort nicht wundern, hat doch die dortige Glasfabrik innerhalb der Fabrikanlage eine Kantine, die nicht allein Bier ausschenkt, sondern auch Branntwein, und dies auch noch auf Kredit (Pump, Latte).
Auch soll dort die Polizeistunde eine unbekannte Einrichtung sein. Es würde sich schon lohnen, wollten die Verantwortlichen der Behörde und Gewerkschaften sich dafür einmal interessieren. Oder gilt hier das Sprichwort: Wer gut schmiert, der gut fährt?
In Neuwied hatten wir ein vollbesetztes Haus. Jedoch machte sich hier gleich zu Beginn der Versammlung die „gute gewerkschaftliche Erziehung“ der – „Freien“ bemerkbar. Hier konnte nur kühles und doch energisches Auftreten ein ruhiges Anhören des Vortrages sichern. Um die Vorfälle, die z.B. das Boxmatch des Verbandssekretärs Fischer vom DMV [Deutscher Metallarbeiterverband, Vorläufer der IG-Metall] mit einem Versammlungsteilnehmer in seinen Ursachen verstehen zu können, ist es notwendig, über die dortigen Verhältnisse einiges zu sagen.
Der DMV hat dort nicht ganz 2.000 Mitglieder, leistet sich aber zwei Sekretäre und die unvermeidliche Tippmamsell. In allen Lohnfragen geht’s per Arm mit den Wirtschaftsfriedlichen. Machen wir es kurz, es werden dort alle Register arbeitsgemeinschaftlicher Gemeinheit gezogen. Aus diesen Umständen heraus erklärt es sich, dass dort innerhalb dreier Monate mehr denn 300 Mann sich der Union „Syndikalisten“ angeschlossen haben, und zwar 200 Übertritte und über 100 Neuaufnahmen.
Den Platzhaltern, Fischer und Bartels, ist es klar, dass sie bei diesem Mitgliederschwund die Stellung nicht mehr lange zu halten vermögen und sie kämpfen nun mit mehr Wut wie Verstand im wahrsten Sinne des Wortes, um die – Wurscht.
Den Reigen der Diskussion eröffnete mein Sulzbacher Freund, Max Rudert (KPD). Der gute Junge, der nun einmal nichts anderes gelernt hat, als die Leierartikel der „Roten Fahne“, gab mir denn auch sehr häufig Recht, um sodann das zu diskutieren, was ich nach seiner Anschauung vergessen hätte zu sagen, nämlich: das der Musterkollektion eines Handlungsreisenden gleichende Programm der „großen“ KPD.
Er hatte es sicher nicht bös gemeint, sondern es war nur der bequeme Weg. Auch soll ihm noch einiges geschenkt werden, weil er in dem späterem Faustkampf den wirklich unparteiischen Schiedsrichter machte. Die nächste Nummer war der Sekretär Bartels.
Unter dem Motto: In der Kürze liegt die Würze, schimpfte er in einer halbstündigen Rede sein Inneres so leer, dass die Ähnlichkeit seines Kopfes mit der einer tauben Nuß immer offensichtlicher wurde. Ihm sei alles verziehen. Denn – Selig sind die Geistesarmen, denn ihrer wartet das Himmelreich. Ihm ist es gewiß.
No. 3, Kohl heißt der Mann, seines Zeichens DMV, Sekretäranwärter, erklärt als „Wissenschaftler“ den Anarchismus-Syndikalismus. Was dort zum Besten gegeben wurde, hätte mich denn doch beinahe geärgert. Zum Glück fiel mir noch rechtzeitig ein, dass der Mann – Kohl – heißt; und die so überaus weise Vorsehung der Natur ließ denn auch keinen Groll bei mir aufkommen. Einiges aus der Weisheit dieses „Wissenschaftlers“ soll der Nachwelt erhalten bleiben. Der Anarchismus ist dasselbe wie der Liberalismus. Bakunin schlief stets in den Hosen, jeden Augenblick bereit, das Kommando der Revolution zu übernehmen. Die Anarchisten sind von den Kapitalisten gekaufte Subjekte usw. Auf meine Frage an ihn, auf welchem Planeten er sich diese Wissenschaft errungen, erklärte der Gimpel: „Ich, ich habe darüber sogar schon Vorträge an der Volkshochschule gehalten.“
Jetzt war aller Groll und Galgenhumor dahin, nur noch einiges Mitleid konnte ich haben mit den armen, mit soviel Unsinnmalträtierten Trommelfellen der Zuhörer.
Die Absicht war, mich nicht mehr zu Worte kommen zu lassen. Doch dieser Eingebung ihres schlechten Gewissens konnte ich mich durchaus nicht anschließen und nach einem recht hitzigen Streit bekam ich das Wort zur Erwiderung. Während der Geschäftsordnungsdebatte erklärte ein Versammlungsteilnehmer, er müsse es sehr bedauern, dass der DMV-Sekretär Fischer sich so wenig anständig betragen habe. Fischer stürzte auf den Mann zu, um ihn zu Boden zu schlagen. Wir warfen uns dazwischen und in dem allgemeinen Gezerr musste mein armer Rock einige Nähte lassen. Aller Groll schwand jedoch dahin, als ich neben mir die Worte hörte: „Das tut der alles wegen seines Futtertroges, aber es soll ihm nichts helfen.“
Und nun, um die 12. Stunde, erhält Fischer das Wort. Hatte Bartels geschimpft, wie ein Rohrspatz, so war er doch nur ein Waisenknabe gegen Fischer. Nach Fischer hat die Union Neuwied keine Existenzberechtigung. Sie ist tuberkulös, besteht aus lauter früheren Gelben, Beitragsscheuen, Unterstützungsempfängern usw. Dann lügt der Held bewusst weiter: „In Düsseldorf musste der Metallarbeiterstreik abgebrochen werden, weil die gelben Syndikalisten Streikbruch verübten, desgleichen in Bremen“. Die Syndikalisten sind außerdem Verbrecher, weil sie die Öfen in den Fabriken bei Streiks zerstören wollen. Sie nehmen auch die Früchte der Tarife für sich in Anspruch, die wir durch „ungeheure Mühe“ in schwierigen Verhandlungen herausgeholt haben. Da die letztere Behauptung allgemeine Heiterkeit erweckt, soll ich gar als Kronzeuge fungieren und die furchtbare Schwere des Verbandsbeamten bestätigen. Soll hiermit geschehen. Ich weiß sehr wohl, wie anstrengend die Arbeit im Verbandsbüro sein kann, wie sie sich jedoch im Besonderen unter Mitwirkung weiblichen Personals abspielt, darüber kann ich nichts verlauten lassen.
Kurz und gut, der Kampf um die Wurst ließ keinen Hanswurst daran denken, dass auch die Zuhörer denkfähige Menschen sein können. Daß gar mancher nachgedacht, beweist der Verkauf unserer Broschüre während der Versammlung. 50 „Was wollen die Syndikalisten“ und viele, viele andere mehr. Außerdem erklärten mir persönlich mehr wie zehn Versammlungsbesucher, dass sie angewidert [waren] von dem schamlosen Verhalten ihrer Sekretäre und Anwärter, aber auch unzufrieden mit dem ganzen System. Sie wüssten, was sie zu tun hätten.
Hier heißt es Aufklärung und nochmals Aufklärung, und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn in dieser gesunden Luft nur Raum sein sollte für Gedächtnis- und Geistesfäulnis.
Die Mitgliederversammlung beschloß ab 1. August den Beitrag gemäß der Streikresolution zu erheben und zwar einstimmig.
Den Verbandsgrößen gilt mein letztes Wort und das heißt: „Auf Wiedersehen“.
H.R.
Aus: „Der Syndikalist“, Nr. 30/1922.