Helge Döhring:
Die syndikalistische Arbeiterbewegung in Deutschland 1914-1918
Entnommen aus: „Syfo – Forschung & Bewegung. Jahrbuch des Instituts für Syndikalismusforschung (SYFO) Nr. 4/2014, S. 50-70.
Die Arbeiterbewegung in Deutschland ist im kollektiven Gedächtnis vor allem durch die numerisch größten, die sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen vertreten. Dazu zählen in der Geschichte auf betrieblicher Ebene die Zentralverbände, vertreten durch die „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“, in der Weimarer Zeit organisiert im „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund“ (ADGB) und auf politischer Ebene die Parteien, die „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD) und in ihrer radikaleren Form die „Unabhängige sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD). In der Zeit des Ersten Weltkrieges und im Zuge der russischen Oktoberrevolution (1917) kamen explizit kommunistisch orientierte Parteien hinzu, die größte unter ihnen seit Januar 1919 die „Kommunistische Partei Deutschlands“ (KPD). Auf ihre eigenen Traditionen zurückblicken konnten auch die christlichen Gewerkschaften, die besonders in Regionen mit katholischer Bevölkerung zur zweiten Kraft hinter den sozialdemokratischen Zentralverbänden aufstiegen, sowie der liberale, kleine, aber traditionsreiche „Hirsch-Dunckersche Gewerkverein“. Sie alle werden in den wissenschaftlichen Darstellungen zur Gewerkschaftsgeschichte in Deutschland ausgiebig beachtet.
Genese und Entwicklung des Syndikalismus
Kaum bekannt hingegen ist der syndikalistische Teil der Arbeiterbewegung in Deutschland, der zahlenmäßig zwar eine weit untergeordnete Rolle spielte und selbst gegenüber den Hirsch-Dunckerschen klein anmutet, der ideell betrachtet aber gerade für die Zeit des Ersten Weltkrieges eine bemerkenswerte Rolle einnahm. Beachtlich deshalb, da die Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung von Zustimmung zum Krieg gekennzeichnet war, und die sich entfaltende kommunistische Opposition erst im Entstehen begriffen war. Um Missverständnissen vorzubeugen, muß betont werden, dass der Begriff „Syndikalismus“ im Folgenden in einem engen definitorischen Sinne verwendet wird. In zeitgenössischen Betrachtungen und ungenauen Forschungen werden – oft politisch motiviert – vielerlei oppositionelle Strömungen und Protestbewegungen als „syndikalistisch“ tituliert. Die syndikalistische Arbeiterbewegung ist jedoch ausschließlich diejenige, die sich aus der Opposition gegenüber der Zentralisierung der anderen Gewerkschaftsgruppen über die „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ herausbildete.[1] Die lokalorganisierten Ortsvereine konstituierten sich seit 1897 reichsweit als „Vertrauensmännerzentralisation Deutschlands“ und seit 1901 als „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ (FVDG). Diese entsprang genuin den Anfängen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, und sie war auch keine „Abspaltung“. Ihre Ortsvereine schlossen sich lediglich nicht der „Generalkommission“ an. Die Mitglieder waren sozialdemokratisch politisiert, in der Regel auch Mitglied in der SPD. Für die Organisation gehörte der Föderalismus zu den obersten Prinzipien. Demgemäß war für diese Frühphase auch die Bezeichnung „Lokalisten“ treffend gewählt. Innerhalb der SPD kam es zur Jahrhundertwende zu verstärkten Reibungen zwischen ihnen und den zentralgewerkschaftlich organisierten Kollegen. Die Partei stellte sich gegen die „Lokalisten“, und die Generalkommission unternahm vielfältige Aktivitäten – eine Mischung aus Ködern und Drohen – um die Mitglieder der FVDG in die Zentralgewerkschaften eintreten zu lassen. Nachdem die SPD 1908 bezüglich einer gleichzeitigen Mitgliedschaft in der FVDG einen Unvereinbarkeitsbeschluß in Kraft setzte, verließen etwa 8.000 der insgesamt 16.000 Mitglieder die lokalistische Organisation.[2] Zu diesem Zeitpunkt war sie jedoch schon syndikalistisch geprägt, d.h. sie nahm Impulse vor allem aus der französischen Arbeiterbewegung auf, orientierte sich nicht nur an föderalistischen Elementen und am Klassenkampf, sondern erhob die Kampfmethode der „Direkten Aktion“ zum Programm, sowie den Generalstreik zum Prinzip für eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft.[3] Sie belebte Werte und Traditionen, die in Deutschland innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung stets ein Schattendasein führten, deren Vertreter, beispielsweise Johann Most oder Wilhelm Hasselmann, aus der Bewegung ausgeschlossen wurden.[4]
Charakter und Bedeutung des Syndikalismus

Und hier der internationale libertäre Widerstand gegen den Weltkrieg „Die unbekannte Internationale“
Für die Zeit des Ersten Weltkrieges kam hinzu, dass die FVDG einen strikt antimilitaristischen Kurs beibehielt, während andere Arbeiterorganisationen mit den Vertretern der kapitalistischen Wirtschaft, sowie mit dem Staat einen „Burgfrieden“ schlossen und sich als zuverlässige Partner des Militarismus erwiesen. Fritz Kater, Obmann der FVDG-Geschäftskommission, wies in den ersten Wochen nach dem Kriege darauf hin, dass die FVDG „wohl die einzige fest gefügte Organisation in Deutschland ist, deren Vertreter und Organe nicht umzulernen brauchten. Wir waren Feinde des Kapitals, des Militarismus, der Kirche, des Staates längst vor dem Kriege, blieben unserer Überzeugung treu im Krieg und sind es noch heute. Wir waren Antiparlamentarier seit 1905 und lehnen auch heute ab, uns an den Wahlen zur Nationalversammlung zu beteiligen. Wir haben uns die Hände rein gehalten.“[5]
So charakterisiert vertraten die Syndikalisten in Deutschland durchgängig die konsequent klassenkämpferische Tradition innerhalb der Arbeiterbewegung. Diese lockerten sie auch nicht aus opportunistischen Gründen, womit der Grundstein gelegt war, mit Kriegsbeginn am 1. August 1914 als erste reichsweite kriegsgegnerische Organisation der Arbeiterbewegung zu gelten. Als solche wurden sie jedoch in der Geschichtsschreibung nicht beachtet, weil der syndikalistische Teil der Arbeiterbewegung weitgehend in Vergessenheit geriet. Der Fokus klassenkämpferischer Traditionen richtete sich lediglich auf die erst in den Kriegsjahren entstehenden kommunistischen Strömungen. Das betraf nicht nur die DDR-Historiographie, ihre Ableger in Westdeutschland und manche kritische sozialdemokratische Initiative, sondern auch diejenigen Forschungen und Publikationen, die in Westdeutschland aus den neuen sozialen Bewegungen hervorgingen. Der Syndikalismus wurde schlicht übergangen, und zum Thema gibt es daher für die Epoche Erster Weltkrieg in Deutschland wenig stichhaltige Literatur.
Angela Vogel, welche die erste ausführliche Ideengeschichte des Syndikalismus in Deutschland (1977) ausarbeitete, stellte für die Zeitspanne 1914-18 kurz und knapp fest, dass die FVDG „während des Krieges nicht mit Publikationen und Programmen an eine proletarische Öffentlichkeit getreten“ sei. Sie irrte jedoch, als sie feststellte, es ließe sich nichts aussagen „über ihre taktischen Vorstellungen vor Beendigung des Krieges […] noch darüber, ob sie eine revolutionäre Situation überhaupt erwartete.“ Richtig lag sie damit, „daß die Lokalorganisationen während des Krieges in der Illegalität erhalten geblieben waren.“[6]
Hans Manfred Bock stellte in seiner „Zwischenbilanz“ (1989) zurecht fest, dass die bislang ausführlichste Ausarbeitung u.a. zur FVDG von Dirk H. Müller, „Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie“ (1985), sich im Zeitraum von 1914-18 „ausschließlich für die innergewerkschaftliche Opposition im Berliner DMV der Kriegsjahre und die Entstehung der Arbeiterrätebewegung“ interessiert. Dennoch finden sich bei Dirk H. Müller ausführlichere und allgemein relevante Beschreibungen für den Bereich der Metallarbeiter Berlins.[7]
Im Jahre 2000 erschien ein Aufsatz von Wayne Thorpe, der sich erstmals im Wesentlichen aus den bisher vernachlässigten Angaben syndikalistischer Provenienz speist und einen sowohl korrekten als auch konkret themenbezogenen Überblick ermöglicht.[8] Keinesfalls reichte diese kurze Ausarbeitung jedoch aus, um den Stellenwert der syndikalistischen Kriegsgegnerschaft innerhalb der Arbeiterbewegung bewerten zu können. Zu kurz kamen seine Recherchen zur Betriebsarbeit der FVDG in den Kriegsjahren.
Nach intensiver Quellenrecherche konnte ich im Jahre 2013 erstmals eine umfassende Studie zum Thema „Syndikalismus in Deutschland 1914-1918“ vorlegen, erschienen im Licher Verlag „Edition AV“.[9] Diese arbeitet heraus, dass die FVDG aus ihrem Selbstverständnis und aus ihrer Praxis heraus die erste und zunächst einzige proletarische Bewegung, fest organisierter Kriegsgegner auf Reichsebene stellten.
Als weitere vernachlässigte revolutionär-klassenkämpferische Strömung sind die „Revolutionären Obleute“ zu nennen. Wie auch die Syndikalisten hatten diese ihren Schwerpunkt in Berlin unter den Metallarbeitern, besonders bei den Drehern. Weniger der zahlenmäßig kleine „Spartakusbund“ spielte die große Rolle bei den Massenstreiks in Berlin der Jahre 1916-18 mit mehreren 100.000 Beteiligten, sondern die „Revolutionären Obleute“, deren Geschichte ihr Protagonist Richard Müller in seinen Werken vor der Vergessenheit bewahrte und deren Geschichte erst um 2010 von Ralf Hoffrogge anschaulich gewürdigt wurde.[10] Insofern ist die Bedeutung der syndikalistischen Organisation nur bedingt an ihrer wirkungsvollen Praxis zu messen, sondern mehr an ihrer ideellen Haltung eines konsequenten revolutionären Antimilitarismus durch die Kriegszeit hindurch. Die „Revolutionären Obleute“ hingegen, die als geheime Opposition innerhalb des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) organisiert waren, formierten sich nämlich in den ersten Kriegsjahren keinesfalls als Kraft mit revolutionärem oder antimilitaristischem Programm.
Durch gründliches Quellenstudium wird ersichtlich, dass in den wichtigsten Betrieben mit revolutionärer Arbeiterschaft auch die vergleichsweise wenigen syndikalistischen Vereinigungen ihre Standbeine hatten. Deshalb war es detaillierte Blicke wert, inwiefern und in wieweit neben den „Revolutionären Obleuten“ auch den Syndikalisten eine treibende Rolle für die späteren Massenstreiks und die „Novemberrevolution“ zukam und zwar über die bloße Vermutung hinaus, dass dies ob ihrer revolutionären Haltung zwangsläufig der Fall gewesen sein müsse. Aus den Quellen der Geschichte des Syndikalismus in Deutschland geht wenig explizit hervor, dass die Gruppen der FVDG diese Massenstreiks organisierten oder eine besondere Rolle dabei spielten. Es gibt grob gesagt nur zwei Hinweise dafür, allerdings unterschiedlicher Provenienz, was ihre Glaubwürdigkeit erhöht. Der erste findet sich in einem Polizeibericht über die Tätigkeiten der Arbeiterschaft in den Berliner Metallbetreiben vom Juli 1916 wieder: „Die Hauptbefürworter der [Streikanträge] sind lokal organisierte Arbeiter. Diese Syndikalisten provozieren und unterstützen alle Demonstrations- und Generalstreiksanträge. Daß die Gefahr der Propagierung des Munitionsarbeiterstreiks nicht bei den oppositionellen Gruppen der Partei liegt, sondern in weit stärkerem Maße bei den Syndikalisten wurde auch auf einer Konferenz Berliner Gewerkschaftsfunktionäre anerkannt.“[11]
Der zweite Hinweis stammt von Fritz Kater rückblickend aus dem Jahre 1919: „Der Geist, der in unserer Bewegung gepflegt wurde, war es, der einen großen Teil der Berliner Genossen in die Revolutionsbewegung hineingebracht, die von Anfang bis zum Schluß mittätig waren innerhalb der Bewegung der revolutionären Betriebsvertrauensleute in Berlin. Syndikalisten neben Sozialdemokraten waren es, die am 9. November offen ihren Mann gestanden haben, um das Militär aus den Kasernen, die Arbeiter von den Schraubstöcken, die Frauen und Mädchen aus den Fabriken zu holen. Das war der Niederschlag dessen, was wir seit Jahren gepredigt hatten.“[12] Für weitere Einschätzungen, vor allem darüber, wie groß der Einfluß der Syndikalisten auf die Geschichte der Massenstreiks und der „Novemberevolution“ war, mögen die folgenden Kapitel hilfreich sein.
Die FVDG im Krieg[13]
Reorganisation und Verfolgungen
Die FVDG wurde nicht verboten oder gar „zerschlagen“,[14] jedoch in ihrer Arbeit stark behindert. Im Oktober 1914 zählte sie insgesamt 122 Ortsvereine.[15] Zunächst sprachen die gegnerischen Gewalten, die gegenseitig ihren „Burgfrieden“ schlossen, eine deutliche Sprache, indem sie Anfang August 1914 mit Verhaftungen und Hausdurchsuchungen gegen Funktionäre der FVDG vorgingen und die Organisationspresse, „Der Pionier“ (6. August), sowie „Die Einigkeit“ (12. August) verboten.
Die Aufgaben der Organisation bestanden darin,[16]
- Die Mitglieder in der Organisation zu halten.
- Die Versammlungen fortzuführen, beispielsweise durch Lese- und Vortragsabende.
- Bevollmächtigte für alle Ortsvereine am Ort zu ernennen, die den Kontakt zur Geschäftskommission halten, sowie das „Mitteilungsblatt“ an die Vorstände verteilen.
- Gegenseitige Unterstützung der Ortsvereine an einem Ort für Mitglieder und deren Familien zu gewährleisten. Auch wurde ein zentraler „Inhaftiertenfond“ eingerichtet.
- Den organisatorischen Bestand der Ortsvereine abzusichern durch die Ernennung von Ersatzvorständen für plötzlich zum Krieg berufene Mitglieder. Empfohlen wurde die Wahl von nichtmilitärpflichtigen Genossen.
Bereits in den ersten Kriegswochen wurde die Gesamtorganisation als stabil angesehen. Dazu gab sie seit Mitte August 1914 wöchentlich ein in insgesamt 43 Ausgaben erschienenes organisationsinternes 4-seitiges „Mitteilungsblatt“ heraus. Verboten wurde es nach einer vorhergehenden Verwarnung durch die Polizeibehörden im Juni 1915, weil „die Schriftleitung nicht gewillt ist, ihre mit den Anforderungen der gegenwärtigen Zeit unvereinbare Tendenz zu mäßigen und sich im Kampfe gegen andere politische Richtungen die erforderlichen Beschränkungen aufzuerlegen.“[17] Nur 10 Tage später gab die Geschäftskommission ein zweiwöchentliches „Rundschreiben“ heraus, das im Mai 1917 mit der Nummer 47 eingestellt werden musste, aufgrund des § 9 des Gesetzes über den Belagerungszustand.[18] Die Geschäftskommission der FVDG lehnte im Folgenden die Herausgabe weiterer Periodika ab: „Wenn die entfernteste Möglichkeit gegeben wäre, etwas in unserem Sinne tun zu können, würde es unternommen werden. Gewiß! Eine Zeitung herausgeben, das würde man uns evtl. wohl erlauben, wenn – ja, wenn wir den verlangten Kotau machen würden, d.h. in aller Form offen und heilig versichern, nichts über Sozialismus, Syndikalismus, direkte Aktion, etc. zu sagen, sondern nur so zu schreiben, wie es die Generalkommandos wünschen und anordnen.“[19]
Das Ausmaß der Verfolgung syndikalistischer Aktivisten an der Basis verdeutlichen folgende Überlieferungen: Bereits in den ersten Kriegswochen setzten 20 Verhaftungen von Funktionären vor allem in grenznahen Gebieten ein, so in Düsseldorf (Anton Rosinke), Elberfeld, Krefeld und Köln.[20] Für die meisten hatte das eine mehrwöchige „Präventiv-Vorbeuge-Haft“ zur folge.[21] Zu einem von ihnen, Johann Baptist Steinacker aus Elberfeld, vermerkte die Polizei im Februar 1915: „Seit Ausbruch des Krieges befindet sich Steinacker in Sicherheitshaft. Wenn auch sein Verhalten während der Haft zu Klagen wenig Anlaß gegeben hat, so ließ er doch immerhin noch erkennen, dass in seiner Gesinnung bis jetzt keine Änderung eingetreten ist.“[22] Im September desselben Jahres beabsichtigte die Polizei, ihn „für die Dauer des Krieges“ weiter festzuhalten.[23] Erst 1916 verkündete die Polizei: „Baptist Steinacker wurde am 13.3.1916 aus der Sicherheitshaft entlassen und am gleichen Tage zum 2. Depot Ausbildungs-Bataillon Nr. 7 Infanterie-Regiment Nr. 32 in Crefeld eingezogen.“[24]
Wer nicht eingezogen wurde, stand dennoch unter strenger Beobachtung und wurde verwarnt, wie das Beispiel Carl Windhoff, ebenfalls aus Düsseldorf, zeigt: „Nach Verhängung des Kriegszustandes wurde Windhoff am 1.8. [1914] auf Grund der Verfügung des Herrn Oberpräsidenten der Rheinprovinz v. 11.6.1914 […] in Sicherheitshaft genommen, aus welcher er, im Einverständnis mit der zuständigen Militärbehörde, am 19. August [1914] nach vorheriger dringender Verwarnung, sich während des Kriegszustandes jeder politischen Betätigung zu enthalten, wieder entlassen wurde. Bisher hat Windhoff sich auch der Verwarnung entsprechend verhalten.“[1] In den weiteren Jahren verhielt er sich ebenfalls vorsichtig und wich in seinen Aktivitäten aus: „Er steht mit bekannten hiesigen Anarchisten in regem persönlichem Verkehr, hat sich aber sonst mit Rücksicht auf die durch den Kriegszustand geschaffenen Verhältnisse einer besonderen Betätigung für die anarchistische Bewegung enthalten. In letzter Zeit hat Windhoff sich besonders rege in dem hiesigen Freidenker Verband betätigt, welchem fast ausschließlich Sozialisten und Anarchisten als Mitglieder angehören.“[26]

Wilhelm II: „Ich kenne nur noch Deutsche“. Diese hier wohl nicht…FVDG Mitteilungsblatt Nr. 40 vom 15. Mai 1915
Im Juli 1915 machte die Geschäftskommission die Mitteilung, dass drei Syndikalisten aus Düsseldorf und Krefeld sich ohne Angabe von Gründen seit einem Jahr ununterbrochen im Gefängnis befinden. Für sie wurde ein Inhaftiertenfond eingerichtet, um sie und ihre Familien zu unterstützen.[27] Im Herbst 1915 wurden die Syndikalisten Berthold Cahn (Berlin) und Fritz Püllen (Krefeld) verhaftet und befanden sich für mehr als ein Jahr in „Schutzhaft“.[28] Cahn konnte noch im Jahre 1914 während des Krieges auf etwa einem Dutzend Veranstaltungen sprechen, ohne behelligt zu werden. Erst Anfang Februar 1915 wurde er in Sicherheitshaft genommen. Nach einem halben Jahr Gefängnis kündigte der ihn vertretende Rechtsanwalt Dr. Siegfried Weinberg an, sich für die Freilassung von Cahn einzusetzen, die „Verhaftung im Reichstage zur Sprache“ zu bringen. Dennoch lehnte das Oberkommando die Freilassung „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit“ ab. Für den Fall der Freilassung würde man ihn zur Nachmusterung schicken. Doch im Februar 1916 befand er sich noch immer in Haft, und die Polizei stellte erhöhte Aufmerksamkeit fest: „Cahn gilt bei seinen Gesinnungsgenossen als Märtyrer, der für seine Überzeugung und für die der Genossen büßen muß.“ Erst Ende November erfolgte die Freilassung mit der Auflage, sich nicht politisch zu betätigen. Er hielt sich nicht daran und besuchte 1917 die Versammlungen der „Union anarchistischer Vereine Berlins und Umgegend“, sowie der „radikalen-sozialistischen Jugend“, hielt dort Vorträge und beteiligte sich an Diskussionen. Im Oktober 1917 sah die Polizei von erneuter Haft ab, Cahn trete „nicht mehr so hervor wie früher.“ Dazu sei er beruflich zu eingespannt.[29]
Arbeitskämpfe und Streiks

Paul Hindenburg: „Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur“, leider nie zur Rechenschaft gezogen..FVDG-Rundschreiben Nr. 31 vom 15. September 1915
Wie auch gegenüber den „Revolutionären Obleuten“ gelang es den Klassengegnern lediglich, die Aktivitäten der Syndikalisten an deren betrieblichen Basis einzudämmen. Dort blieb Raum, erste Widerstandshandlungen zu unternehmen. Diese richteten sich zuallererst gegen die Symptome des Krieges, vornehmlich gegen die Teuerungsraten, hauptsächlich der Lebensmittel und gegen Entlassung von Kollegen. Vorschub leistete die Politik der Zentralgewerkschaften, die für die Dauer des Krieges keine Lohnerhöhungen forderte, noch diese über Streiks erkämpfen wollte. Die folgenden Angaben basieren auf syndikalistischen Quellen, des „Mitteilungsblattes“, sowie des „Rundschreibens“. Aufgrund der Berichte ist eine hohe Anteilnahme seitens der Syndikalisten bei Streikhandlungen anzunehmen, manche werden anschaulich geschildert. Evident sind sie Schwerpunkte der Syndikalisten und ihrer Handlungen in vornehmlich denjenigen Berliner Großbetrieben, in denen auch die „Revolutionären Obleute“ ihre Basis hatten und von deren Belegschaften die Initiative zur „Novemberrevolution“ des Jahres 1918 maßgeblich ausging: AEG, Schwartzkopff, Goerz.
Metallarbeiter
Das Schwergewicht syndikalistischer Aktivität lag in der Berliner Metallindustrie: Im November 1914 streikten 250 Dreher bei der Firma Goerz in Friedenau erfolgreich und gegen den Willen des DMV für eine 10 prozentige Lohnerhöhung, dortselbst abermals erfolgreich im Oktober 1915, sowie im März 1916. Goerz gehörte zu denjenigen Betrieben, von denen unter maßgeblichen Einfluß „revolutionärer Obleute“ die Protestwellen und Streiks der späten Kriegsmonate ausgingen.
Ein weiterer Betrieb mit ähnlichem revolutionärem Potenzial war AEG. Nach 16-stündigem Streik konnte dort im Januar 1915 eine Lohnerhöhung durchgesetzt werden, auch hier nur gegen den DMV, der versuchte, die Streikbewegung zu sabotieren. An der Spitze dieser „Direkten Aktion“ standen syndikalistische Werkzeugmacher. Etwa zeitgleich streikten unter syndikalistischer Beteiligung Arbeiter bei Schwartzkopff mit Erfolg für Akkordzuschläge. Weiteres sei nach Einschätzung der Syndikalisten generell dann möglich, wenn „die Politikanten bei allen wirtschaftlichen Aktionen der Arbeiter ausscheiden, und die Arbeiter sich die Unabhängigkeit bewahren, gleichzeitig ihr Selbstbewusstsein steigt und auch die Kraft zur Erringung weiterer Erfolge.“[30] Tatsächlich gelang es, auch für einen Teil der Dreher bei Schwartzkopff im Torpedobau im März 1915, eine Lohnerhöhung durchzusetzen, nachdem 160 von ihnen in den Streik traten, und nur zehn Kollegen sich nicht am Kampf beteiligten. Derselbe Berufsstand streikte zur gleichen Zeit in den „Argus“ Motorenwerken gegen nur wenige Unorganisierte und hirsch-duckersch Organisierte für eine Akkordlohnerhöhung. Sowohl die bürgerliche Presse als auch der sozialdemokratische „Vorwärts“ schalteten daraufhin Gesuche nach Streikbrechern. Den Streikenden wurde damit gedroht, sie dafür zum Krieg einzuziehen. Da diese Maßnahmen den Willen der Streikenden nicht zu brechen vermochten, und sich keine Streikbrecher einfanden, wurden die Forderungen erfüllt.
Statt das Vertrauen in den DMV zu setzen, gaben die Syndikalisten die Parole aus: „Lernt selbständig Denken und Handeln!“[31] So gelang es der FVDG, trotz Kriegszustand Mitglieder zu werben. Streikaktivitäten von 400 Drehern bei Schwartzkopff in der Zinnowitzer Strasse verliefen im Februar 1916 hingegen im Nichts. Dennoch beteiligten sich 1917 an den Streiks im Werk schon mehrere Tausend Arbeiter.
Fünf Tage dauerte ein Streik in der AEG-Turbinenfabrik im Frühjahr 1916. Bewilligt bekamen die Arbeiter schließlich nur eine Teilforderung nach höheren Löhnen. Der Streik wurde deshalb abgebrochen, um die Geschlossenheit der Belegschaft im Kampf aufrecht zu erhalten. Dies war umso nötiger, als dass im Januar 1915 ein Erlass in Kraft trat, wonach „jeder Arbeiter, wenn er in einen anderen Betrieb übergeht, die Einwilligung hierzu beim bisherigen Arbeitgeber einzuholen habe.“[32] Ohne ein solches Dokument, den sog. „Abkehrschein“, war es oft unmöglich, nicht an die Kriegsfront berufen zu werden, womit die Firmenleitungen den Arbeitern unverhohlen drohten. Dazu wurden in Betrieben Aushänge angebracht, dass Arbeiter, sobald sie ihr Arbeitsverhältnis beenden oder die Arbeit niederlegen, dem Kriegsministerium gemeldet werden sollten. Die Kämpfe der Syndikalisten richteten sich also auch gegen Entlassungen – so im Frühjahr 1915 bei Schwartzkopff – sowie gegen Überstunden und Sonntagsarbeit, um mehr Kollegen in Arbeit bringen zu können.
Doch nicht nur vom Willen hing die vergleichsweise starke Stellung der Metallarbeiter ab. Sie profitierten vom Arbeitskräftemangel aufgrund zahlreicher Einberufungen zum Krieg, davon, dass die Rüstungsindustrie in hohem Maße Rüstungsaufträge erhielt und dass in vielen kraftaufwändigen Berufen nur Männer eingesetzt werden sollten. Besonders die Dreher galten in ihrer Fachkenntnis und Berufserfahrung als unentbehrlich und als Speerspitze der Belegschaften im Arbeitskampf. Die syndikalistische Metallarbeiter-Organisation war in Berlin außerdem vertreten bei den Bauanschlägern.
Holzarbeiter und Zimmerer
Die syndikalistischen Holzarbeiter- und Zimmerervereinigungen zählten in Berlin zusammen rund 2.000 Mitglieder, davon einte die „Freie Vereinigung der Holzarbeiter Deutschlands“ im September 1914 rund 800 Mitglieder und der „Verein der Zimmerer Berlins und Umgegend“ etwa 1.200 im Frühjahr 1915. Im November 1914 traten einige von ihnen bei der Firma Boenicke gegen Vorenthaltungen von Lohn in den Streik. Solche konnten offensiv geführt werden, da zahlreiche Abberufungen zum Militärdienst die Arbeitskräfte rar werden ließen. Große Probleme bereiteten hingegen die sozialdemokratischen Zentralverbände, so die Syndikalisten: „Immer wieder versuchen sie dort, wo sie in der Majorität sind, unsere Mitglieder zu piesacken und sie zu ihrem Verband herüber zu zwingen. Manchmal auch mit Erfolg. Leider verbietet der uns auf Grund der Kriegsgesetze vorgehangene Maulkorb, gegen dies fluchwürdige Gebaren gebührend vorgehen zu können.“[33]
Im September 1915 streikten Syndikalisten und Kollegen in der Firma „Siemens und Halske“ (Berlin) beim U-Bahn Bau für höhere Löhne. Wegen Arbeitskräftemangel ließ die Firmenleitung 300 externe Arbeiter heranschaffen. Hier offenbarte sich, dass nicht nur gegen den Klassenfeind und gegen die Zentralverbände Stellung bezogen werden musste, sondern auch in den eigenen Organisationsreihen Klärungsbedarf bestand: Ein Dutzend Mitglieder der syndikalistischen Organisation wurden wegen unsolidarischen Verhaltens im Arbeitskampf ausgeschlossen. Dieses Manko sollte sich durch die gesamte Kriegszeit ziehen. In der „Union-Baugesellschaft“ (Berlin) gründete sich hingegen Anfang 1915 eine neue syndikalistische Betriebsgruppe unter den 70 dort beschäftigten Zimmerleuten. Insgesamt warb die Vereinigung der Zimmerer im Jahre 1916 rund 75 Mitglieder, so viele, wie der Organisation durch Einberufungen zum Militärdienst und Austritte verlustig gingen. Mit der Organisation war es also insgesamt nicht zum besten bestellt, allerdings funktioniere die organisationseigene Arbeitsvermittlung gut, und es gäbe an der Basis auch ein festes Standbein: „Der größte Teil unserer daheim gebliebenen Kameraden besteht heute nur noch aus solchen, die nicht mehr mit in den völkermordenden Krieg ziehen durften, dafür aber tapfer schon unter dem Sozialistengesetz mitgekämpft haben. Sie werden den dort empfangenen Lehren getreu mit größerer Kraft und Hingebung für unsere Organisation agitatorisch mitwirken.“[34] Berliner Kollegen aus der syndikalistischen Holzarbeitervereinigung arbeiteten u.a. in den Firmen „Biese“, „Duyfen“, „Lubitz“, Bogs und Vogt“, „Schwidalla“, „Bechstein“ und „Schmidt“-Königsbergerstraße. Bei Lohnverhandlungen erzielten sie bis zu 25 Prozent Aufschlag.[35]
Aus einem Bericht über die Lage der syndikalistischen Zimmerer Berlins im Jahre 1917 ging folgende Einschätzung hervor: „Der Wohnungsbau lag und liegt, infolge des alle Kultur vernichtenden Krieges, fast total darnieder. Der größte Teil unserer Kameraden ist an Arbeiten beschäftigt, die lediglich dem Kriegszweck dienen. Aufgrund des lang andauernden Krieges habe sich aber auch bei einem größeren Teil der Mitglieder eine unentschuldbare Interesselosigkeit für das Vereinsleben breit gemacht, wie sie vor Ausbruch des Krieges wohl niemand erwartet habe. Je länger die Kriegsfurie rast, umso mehr wachsen die Mißstände in unserem Beruf. Sonntags- und Überstundenarbeit machen sich immer mehr breit. Ja selbst solche Kameraden, die früher die schärfsten Gegner davon waren, sind in diesen Strudel mitgerissen und fügen sich allen diesbezüglichen Anforderungen fast willenlos. Das kann für uns alle später zu großem Nachteil werden. Unter all diesen mißlichen Umständen hat vor allem auch die geistige Fort- und Weiterentwicklung der Kameradschaft zu leiden. Wurde doch unsere mit guten wissenschaftlichen Werken ausgestattete umfangreiche Bibliothek so gut wie gar nicht in Anspruch genommen.“[36]
Ortsvereine der FVDG bestanden in Berlin noch unter den Fliesenlegern, den Malern, den Rohrern und den Tapezierern, des weiteren eine „Freie Vereinigung der Bauberufe“ und eine „Freie Vereinigung aller Berufe“. Alle Ortsvereine fanden sich organisatorisch zusammen im Berliner FVDG-Gewerkschaftskartell, das vornehmlich für die Bildungsarbeit zuständig war und branchenübergreifend Vortragsveranstaltungen organisierte.
Außerhalb Berlins
Im Brandenburger Umland hatte die FVDG Ortsvereine der Zimmerer in Küstrin, der Holz- und Bauarbeiter in Nauen und Bürsten – und Pinselmacher in Neuruppin.
An Rhein und Ruhr am regesten waren die Syndikalisten in Düsseldorf mit Ortsvereinen für Fliesenleger, Metall- und Holzarbeiter, auch hier zusammengefasst in einem örtlichen Gewerkschafts-Kartell, sowie mit einem Gesangverein. In Krefeld, Fischeln und Süchteln hingegen organisierten sich die Syndikalisten in der Textilindustrie und bildeten dort ein außergewöhnlich starkes Standbein. Ein zweiter Ortsverein in Krefeld fasste die Färber zusammen. Auch im benachbarten Viersen existierte eine Vereinigung aller Berufe, und aus Dortmund ist eine „Vereinigung der Fliesenleger und Hilfsarbeiter Deutschlands“ überliefert.
In Dresden vereinten sich während der Kriegszeit eine Vereinigung der Fliesenleger, eine der Metallarbeiter und eine für alle Berufe im örtlichen Gewerkschafts-Kartell der FVDG. Dieses organisierte „Familientage“ für alle Mitglieder: „Frauen und Kinder waren Gäste des Kartells, labten sich leiblich an Kaffee und Kuchen, während die geistige Speise in glücklichster Reihenfolge serviert wurde. Und was wurde da nicht alles geboten. Ansprache, Prolog, Deklamationen, Rezitationen, Gesang und Musik,“ so hieß es in einem internen Bericht.[37] In Halle bestand ein „Fachverein der Zimmerer und verwandter Berufsgenossen“.
Weitere sichtbare Schwerpunkte hatte die syndikalistische Bewegung nur noch in Süddeutschland, sowie in den Küstenstädten. Das Gewerkschafts-Kartell in München nannte sich „Syndikalistische Arbeiterföderation“ und umfasste die Ortsvereinigungen der Holzarbeiter, der Steinholzleger und der Isolierer. In Nürnberg organisieren sich die Holzarbeiter separat zur Vereinigung für alle Berufe, und eine solche existierte auch in Stuttgart. Im beschaulichen Trostberg gelang dem bekannten syndikalistischen Agitator Augustin Souchy der Aufbau einer Betriebsgruppe, obgleich er 1915 bei den dortigen Stickstoffwerken nur für wenige Monate Station machte, bevor er nach Schweden emigrierte. Die Polizei legte der Werksleitung nahe, ihn „in unauffälliger Weise aus dem Dienst“ zu entlassen, denn Souchy hatte „in Privatgesprächen wiederholt die militärischen Einrichtungen […] abfällig kritisiert.“[38] Dem Wiesbadener Agitator August Kettenbach gelang es, in Mainz kurzfristig eine Vereinigung der FVDG aufzubauen – unter Ausnutzung von Uneinigkeiten innerhalb der Zentralgewerkschaften. Ein Gewerkschafts-Kartell in Mannheim umfasste Bau-, Metall- und Erdarbeiter, sowie die Zimmerer; in Ludwigshafen gereichte es lediglich zu einer Vereinigung für alle Berufe. Etwa 200 Mitglieder hatte der „Syndikalistische Industrieverband“ in Hamburg zu Kriegsbeginn. Ihnen glückte im Mai 1914 ein Streik auf dem damals größten Passagierdampfer der Welt, der „Vaterland“ mit 1.200 Besatzungsmitgliedern und 3.500 Passagieren. Annähernd spektakuläres ist seit Kriegsbeginn nicht überliefert, wohl aber weitere Ortsvereine der Zimmerer (auch im damals noch nicht eingemeindeten Wandsbeck) und der Metallarbeiter. In Stettin organisierten sich die Zimmer und in Königsberg die Töpfer in der FVDG.

Tote Syndikalisten aus München und Düsseldorf, aus Mitteilungsblatt der FVDG, Nr. 35 vom 10. Tpril 1915
Weitere – jedoch nicht bestätigte – Hinweise auf syndikalistische Vereinigungen finden sich in Brackel (Bergbau), Danzig (Holzarbeiter), Dortmund (Bau), Duisburg (alle Berufe), Elsterberg (alle Berufe), Erfurt (Metall), Leipzig (alle Berufe), Magdeburg (alle Berufe), Meißen (alle Berufe), Rüstringen/Wilhelmshaven (alle Berufe), Strausberg (Zimmerer) und in Zossen (Zimmerer).
Zusammengefasst bestanden folgende Aufgaben und Tätigkeiten auf örtlicher Ebene
- Arbeitskämpfe und verdeckte Propaganda
- Arbeitsvermittlung
- Arbeitslosenunterstützung und Kontrolle
- Versorgung von Hinterbliebenen
- Vereinsversammlungen/Bildungsveranstaltungen/Feierlichkeiten/Bibliotheken
- Kassenwesen und Pressedistribution
Fazit
Wenngleich diese Studie manch neues zutage fördert, darf nicht zuviel erwartet werden. Die überlieferte Tätigkeit der Syndikalisten beschränkt sich zum allergrößten Teil auf Berlin und dort auf wenige Großbetriebe. Dennoch gelingt es aufzuzeigen, dass die Syndikalisten eine Rolle innerhalb der widerständigen Arbeiter- und Streikbewegung einnahmen, wobei ihnen die langjährige Organisationserfahrung seit der Zeit der Sozialistengesetze zugute kam. Teile der Sozialpolitik zwischen den sich im Burgfrieden befindenden Zentralgewerkschaften und Kapitalisten/Staat gehen nachweislich auf den Druck der Arbeiterschaft in den Berliner Großbetrieben, vor allem der Metall- und Rüstungsbranche zurück. Genau für diesen Bereich sind auch die meisten Tätigkeiten der syndikalistischen Organisation detailliert überliefert. Ein ursächlicher Zusammenhang aufgrund syndikalistischer Beteiligung ist damit wahrscheinlich. Einen weiteren organisatorischen Schwerpunkt besaßen die Syndikalisten unter den Holzarbeitern und Zimmerern. Wenngleich die numerische Stärke und auch der Wirkungsgrad der Syndikalisten als relativ gering erachtet werden können,[39] so sollten sie in Gesamtbetrachtungen nicht ignoriert werden. Ihre Mitglieder leisteten einen kleinen Beitrag zur Entfaltung der „Novemberrevolution“ in Deutschland im November 1918, und die FVDG stellte den ersten reichsweit organisierten Arbeiterwiderstand gegen den Ersten Weltkrieg dar.
Landesarchiv Berlin (LAB)
A Pr. Br. Rep. 030: Nr. 16097 (Berthold Cahn), Nr. 16318 (Friedrich Kater), Nr. 16578 (Johann Baptist Steinacker), Nr. 16579 Augustin Souchy), Nr. 16609 (Carl Windhoff)
Mitteilungsblatt der Geschäftskommission der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften
Rundschreiben an die Vorstände und Mitglieder aller der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften angeschlossenen Vereine
Der Syndikalist, Zeitung der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD)
Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, Hamburg 1981
Bock, Hans Manfred: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 – 1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands Meisenheim 1969
Döhring, Helge: Syndikalismus: Der Begriff im Kontext der Entwicklung des Syndikalismus in Deutschland und der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA), Bremen 2008 auf http://www.syndikalismusforschung.info.
Döhring, Helge: Syndikalismus in Deutschland 1914-1918. „Im Herzen der Bestie“, Lich 2013.
Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften: Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongress der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften, abgehalten am 27., 28., 29. und 30. Dezember 1919 zu Berlin in der Aula der Luisenstädtischen Oberrealschule, Dresdener Strasse 113
Hoffrogge, Ralf: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008.
Kater, Fritz: Die Entwicklung der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Berlin 1921.
Materna, Ingo/Schreckenbach, Hans-Joachim: Dokumente aus den geheimen Archiven, Band 4. 1914-1918. Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin 1914-1918, Weimar 1987
Müller, Dirk H.: Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung, Berlin 1985
Müller, Richard: Eine Geschichte der Novemberrevolution. Vom Kaiserreich zur Republik – Die Novemberrevolution – Der Bürgerkrieg in Deutschland (Neuauflage in einem Band). Eingeleitet von Ralf Hoffrogge, Berlin 2012.
Rocker, Rudolf: Johann Most. Das Leben eines Rebellen, Berlin 1924.
Roller, Arnold (Siegfried Nacht): Die Direkte Aktion. Revolutionäre Gewerkschafts-Taktik, New York, 1907 und: Der soziale Generalstreik, in Helge Döhring (Hg.): Abwehrstreik…Proteststreik…Massenstreik? Generalstreik! Streiktheorien und –diskussionen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vor 1914. Grundlagen zum Generalstreik mit Ausblick, Lich 2009.
Rübner, Hartmut: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus, Berlin 1994
Thorpe, Wayne: Keeping the Faith: The German Syndicalists in the First World War, in: Central European History, Vol. 33, Nr. 2 (2000), S. 195-216.
Vogel, Angela: Der deutsche Anarcho-Syndikalismus. Genese und Theorie einer vergessenen Bewegung, Berlin 1977
Anmerkungen
[1] Zum Syndikalismusbegriff siehe: Helge Döhring: Syndikalismus: Der Begriff im Kontext der Entwicklung des Syndikalismus in Deutschland und der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA), Bremen 2008 auf http://www.syndikalismusforschung.info.
[2] Vgl.: Fritz Kater: Die Entwicklung der deutschen Gewerkschaftsbewegung.
[3] Vgl.: Arnold Roller (Siegfried Nacht): Die Direkte Aktion. Revolutionäre Gewerkschafts-Taktik, New York, 1907 und: Der soziale Generalstreik, in Helge Döhring (Hg.): Abwehrstreik…Proteststreik…Massenstreik?…
[4] Vgl.: Rudolf Rocker: Johann Most. Das Leben eines Rebellen.
[5] „Der Syndikalist“, Nr. 4/1919.
[6] Angela Vogel: Der deutsche Anarcho-Syndikalismus…, S. 75. Aus den Verlautbarungen der FVDG („Mitteilungsblätter“ und „Rundschreiben“) geht jedoch klar hervor, dass eine revolutionäre Nachkriegssituation erwartet wurde, für die sich die Syndikalisten bereithalten sollten.
[7] Vgl.: Dirk H. Müller Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie…, S. 288 ff.
[8] Wayne Thorpe: Keeping the Faith…, S. 195-216.
[9] Helge Döhring: Syndikalismus in Deutschland 1914-1918.
[10] Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution. Siehe auch: Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution.
[11] Ingo Materna: Dokumente aus den geheimen Archiven…, S. 144.
[12] Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongress der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften…, S. 21.
[13] So nicht anders ausgewiesen, beziehen sich die Angaben der folgenden Kapitel auf das Buch: Helge Döhring: Syndikalismus in Deutschland 1914-1918.
[14] Nach Hans Manfred Bock soll eine „organisatorische Zerschlagung der ‚Freien Vereinigung’ im August 1914“ stattgefunden haben, vgl.: Hans Manfred Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 – 1923…, S. 56. Der Politologe Hartmut Rübner konstatierte ein Verbot der FVDG, die Quelle dafür blieb er schuldig, siehe Hartmut Rübner: Freiheit und Brot…, S. 33.
[15] Vgl.: „Mitteilungsblatt“, Nr. 9/Oktober 1914.
[16] Vgl.: „Mitteilungsblatt“, Nr. 1, 3/August 1914.
[17] „Rundschreiben“, Nr. 1/Juni 1915.
[18] Vgl.: „Rundschreiben“, Nr. 47/Mai 1917.
[19] LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16318 (Friedrich Kater).
[20] Vgl.: „Mitteilungsblatt“, Nr. 15/November 1914. Rosinke wurde am 1. August 1914 festgenommen, vgl.: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16481, Bl. 43.
[21] Vgl.: „Mitteilungsblatt“, Nr. 4/September 1914.
[22] Polizei Elberfeld vom 23. Februar 1915, in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16578.
[23] Polizei Elberfeld vom 11. September 1915, in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16578.
[24] Polizei Elberfeld vom 22. Dezember 1916, in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16578.
[25] Polizei Düsseldorf vom 8. Juni 1915, in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16609.
[26] Polizei Düsseldorf vom 31. März 1917, in LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16609. Auch 1918 verhielt sich Windhoff nach Polizeiangaben „kaum Auffällig“, vgl.: Polizei Düsseldorf vom 12. März 1918, in: Ebd.
[27] Vgl.: „Mitteilungsblatt“, Nr. 33/März 1915 und „Rundschreiben“, Nr. 4/Juli 1915, Nr. 8/September 1915.
[28] Vgl.: „Rundschreiben“, Nr. 34/November 1916.
[29] Alle Angaben zu Cahn nach: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16097.
[30] „Mitteilungsblatt“, Nr. 23/Januar 1915.
[31] „Mitteilungsblatt“, Nr. 23/Januar 1915.
[32] „Mitteilungsblatt“, Nr. 26/Februar 1915.
[33] „Mitteilungsblatt“, Nr. 23/Januar 1915.
[34] „Rundschreiben“, Nr. 24/Juni 1916.
[35] Vgl.: „Rundschreiben“, Nr. 37/Dezember 1916.
[36] „Rundschreiben“, Nr. 41/Februar 1917.
[37] „Mitteilungsblatt“, Nr. 16/November 1914.
[38] LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16579.
[39] Das Gros der Fachliteratur versieht neben den sozialdemokratischen Gewerkschaften lediglich die christlichen- und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften mit Unterkapiteln. Die Christlichen hatten etwa eine halbe Millionen Mitglieder im Jahre 1913, die Hirsch-Dunckerschen knapp über 100.000, vgl.: Hans-Joachim Bieber: Gewerkschaften in Krieg und Revolution… S. 67 f. Die Syndikalisten lagen mit ihren etwa 8.000 Mitgliedern klar darunter.
Dokumente
Sein oder Nichtsein?
Gewerkschaftsgenossen!
Vierzehn volle Monate tobt nunmehr der Weltkrieg und noch immer ist kein Ende abzusehen. Viele Millionen Männer im besten Lebensalter, die Blüte der Völker, sind vernichtet, unendlich viel Familienglück ist zerstört, Not und Elend ist über die breiten Schichten der Menschheit der kriegführenden Länder in teils so schrecklichem Maße gebracht worden, dass bei einer richtigen Würdigung desselben, selbst die Feder eines Zola versagen würde. Und was wird noch alles kommen und zu ertragen sein? Machtlos stehen wir dem furchtbaren Wüten der Kriegsfurie gegenüber. Zu gering ist di Zahl derer, die auf Grund ihrer Weltanschauung und ihrer Prinzipien die Friedenspalme erhaben und dem Ganzen ein Halt gebieten könnten Alles Können und Wollen der Kriegsgegner aus Prinzip ist von so unzähligen Mächten psychischer und physischer Natur behindert, da sie gegen den Willen der Kriegspartien nicht aufkommen können. Selbst das Oberhaupt der katholisch-christlichen Kirche ruft die Anhänger derselben vergeblich zur Beendigung des Krieges auf.
Was unsere Bewegung betrifft, so ist diese, die schon vor dem Kriege an Anhängern nicht allzu stark war, durch denselben noch mehr geschwächt worden. Tausende haben im Laufe der Zeit das Werkzeug friedlicher Kulturarbeit mit den Kriegswaffen des Staates tauschen müssen. Viele wackeren Kämpfer für die Sache des Proletariats ruhen bereits auf den Kriegsschauplätzen unter dem Rasen. Andere sind zu Krüppeln geworden oder in Gefangenschaft geraten. Und die Zurückgebliebenen? Da ist auch lange nicht alles wie es sein sollte. Manch einer hat, weil er in einen anderen Beruf übergehen musste, der Organisation gänzlich den Rücken gekehrt, andere legen eine Gleichgültigkeit an den Tag, die alles andere, nur nicht verständlich ist. Sie meiden sozusagen geflissentlich jede Veranstaltung der Vereine, rühren keinen Finge für deren Erhaltung und Ausbreitung, scheuen das Beitragszahlen trotz gesteigerten Einkommens und drücken sich vor der Betätigung alles dessen, as ihnen in ruhige Zeit angeblich Lebenszweck war. Ein solches Gebaren kann gar nicht scharf genug gekennzeichnet werden, Um so mehr ist aber hervorzuheben der Opfermut und die Tatkraft derer, die unentwegt ihren Idealen getreu, fest und ohne zu wanken, zur Vereinigung stehen und alles aufbieten, deren Zerfall zu verhüten.
In Voraussicht alles dessen, was da kommen könnte und nun auch eingetreten ist, hat die Geschäftskommission schon gleich zu Beginn des Krieges alles getan, um den Fortbestand der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften zu sichern. Sie hat die bis dahin angestellten Funktionäre bis auf einen vermindert und auch den Lohn desselben auf das Mindestmaß beschränkt Durch die Zeitungsverbote sind auch die Ausgaben für das nunmehr erscheinende Bindemittel, genannt Rundschreiben, wesentlich ermindert worden. Immerhin werden aber auch für die Aufrechterhaltung dieses, wie für die Pflege der notwenigen Korrespondenz und der, wenn auch niederen Besoldung des Angestellten, Mittel gebraucht, die, wenn alles auf dem Laufenden erhalten bleiben soll, von den angeschlossenen Vereinen aufgebracht werden müssen. Das kann, ei einigem guten Willen, ohne Schwierigkeiten bewirkt werden, sind doch die Vereine teils an Mitgliedern noch stark genug, um die verlangten 20 Pfennig monatlich in Vierteljahrsraten für jedes Mitglied an die Geschäftskommission abzuführen, andernteils verfügen sie noch über alte Kassenbestände, die ihnen dieses Opfer ermöglichen.
Gewerkschaftsgenossen! Gedenket aber auch des Inhaftiertenfonds, der in der langen zeit, in welche die Familien derer unterstützt werden mussten, die seit Kriegsbeginn ihrer sozialistischen Gesinnung wegen in Präventivhaft genommen wund bis heute och als Kriegsgefangene gehalten werden. Der damals vorhandene Fonds ist so ziemlich aufgebraucht und bedarf es der opferfreudigen Solidarität aller, wenn wir diese Familien wenigstens einigermaßen vor dem Hunger schützen wollen. Die Vorstände, resp. Vertrauensmänner der Vereine sind auch diesbezüglich informiert, und gehen wir wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß unsere ihnen gemachten Vorschläge nicht nur Beachtung, sondern die weitgehendste Unterstützung bei allen Mitgliedern finden, denen es jemals ernst um unsere gewerkschaftlich Bewegung war.
Niemals zu keiner Zeit hatte das Wort Solidarität eine inhaltsreichere Bedeutung, als gerade jetzt In allen Schichten des Volkes ist man am Werke, jede in ihren besonderen Bestrebungen und zu besonderem Zweck, die Solidarität alles aufzurufen, um wieviel mehr muß die Solidarität und Opferwilligkeit geübt werden, wenn es sich um die Pflege und Erhaltung seiner eigenen Sache handelt.
Sein oder Nichtsein? Das ist die Frage, vor der wir heute stehen. Unsere Bewegung wird sein, wenn die Gewerkschaftsgenossen treu zur Organisation halten, wenn sie deren Versammlungen besuchen und regen Anteil an die Tätigkeit derselben nehmen; wenn sie, soweit sie Beschäftigung haben, pünktlich ihre Beiträge zahlen und alle zusammen erfülle, was die Geschäftskommission den Vorständen und Vertrauensmännern der Vereine an Vorschlägen unterbreite hat. Sie wird nicht sein, wenn dies unterlassen wird.
Die Geschäftskommission gibt sich aber der Hoffnung hin, dass es nur dieser Anregungen bedurfte, um auch den Saumseligen und Wankelmütigen das Pflichtgefühl zu wecken, in brüderlicher Einmütigkeit alles gemeinsam zu tragen und vor keinem Opfer zurückzuscheuen, was dem Fortbestand und späterem Aufstieg unserer Bewegung dienlich ist.
Mit solidarischem Gruß
Für die Geschäftskommission
Fritz Kater
Aus: Rundschreiben, Nr. 8 vom 30. September 1915
Die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften und der Krieg
„Wo ist die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften? Was tut sie? Man hört und sieht seit Kriegsausbruch nicht mehr von ihr!“ Solche Fragen und Behauptungen, die noch die mildeste Tonart ausdrücken, bekommen schon seit geraumer Zeit die Angehörigen dieser unserer Bewegung recht häufig zu hören, von dem Teil der Arbeiter, der vielleicht einmal mit dieser Arbeiterbewegung sympathisierte.
Ein anderer Teil, und zwar der nach Vorschrift deutende und nur auf Befehl handelnde, soweit er von dieser Bewegung überhaupt jemals Notiz genommen hat, zieht wesentlich andere Seiten auf, wenn heute die Rede auf die Freie Vereinigung kommt. Da hagelt es Unterstellungen und Verleumdungen jeglicher Art. Man nennt die Angehörigen fege Gesellen! Drückeberger! Maulhelden u.a.m.; und das alles deshalb, weil seit Anfang August 1914 von der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften und den ihr angeschlossenen Vereinen in der Oeffentlichkeit nichts mehr wahrgenommen wurde.
Seit Jahre – präzise seit 1908 – wurde die Freie Verreinigung deutscher Gewerkschaften von der sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf Betreiben der Führer der gewerkschaftlichen Zentralverbände, der sogenannten „freien Gewerkschaften“, in Acht und Bann getan. Alle Parteiblätter mussten diesen organisierten Arbeitern und ihren Korporationen die Spalten verschließen, selbst für Inserate und Todesanzeigen, und wurden sie doch einmal erwähnt, dann aber nur, um das Ansehen dieser Vereine, – je nachdem: im einzelnen oder im allgemeinen, – ebenso auch das der bekanntesten Personen, bei ihren Lesern herabzuwürdigen, sie vor den dort vertretenen Ideen mit Schauer und Grauen zu erfüllen, sie sogar so gegen die Angehörigen unserer Vereine aufzuhetzen, dass sich die so betörten Arbeiter gegen ihre Klassen- und Leidensgenossen oft zu Handlungen hinreißen ließen, die alles andere, nur kein Atom von Klassenbewusstsein verrieten. Alles das und noch viel mehr konnte aber ruhig in Kauf genommen werden: hatten wir doch seit 1911 sogar zwei Wochenglätter, die „Einigkeit“ und den „Pionier“, mit nennenswerter Auflage, in denen unserer Ideen und Bestrebungen in voller Rein- und Klarheit weit über den Rahmen der in der Vereinigung fest organisierten Gewerkschaftsgenossen hinaus verbreitet werden konnte und wurde. Selbstverständlich wurden auch diese Zeitungen, soweit das nur irgend anging, von den Partei- und Gewerkschaftsblättern totgeschwiegen und deren Existenz den Lesern verheimlicht. Es ist daher gar nicht sehr verwunderlich, dass es in Deutschland ganze Provinzen – abgesehen von einzelnen Orten in denselben – gibt, in denen den Arbeitern bis heut bis heute noch die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften nicht einmal den Namen nach bekannt geworden ist. Selbst in Berlin, dem Sitz der Geschäftskommission und dem Erscheinungsort der Zeitungen, gibt es nicht wenige, sogar in obengenannten Verbänden organisierte Arbeiter, die nichts von unserer Existenz wissen. Grund hierfür ist eben der Boykott, den die sozialdemokratisch Partei und ihre Gewerkschaften über unsere Vereinigungen, deren Veranstaltungen und Blätter verhängt hatten, und der Geist oder Ungeist, mit dem die Mitläufer jener unserer Gegner seit vielen Jahren erfüllt wurden.
Fanden also die Ideen und Bestrebungen, wie sie von der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften grundsätzlich vertreten werden, bei den Arbeitern bis zum Kriegsausbruch nicht den erwünschten Resonanzboden, – die Gründe hierfür sind zum Teil schon oben genannt, – um so mehr Beachtung schenkten ihr die Polizei und staatlichen [Ermittlungsbehörden]. Wegen der Propaganda antimilitaristischer Ideen und der direkten Aktion im Kampf zur Erringung besserer Lohn- und Arbeitsbedingungen und um die Verwirklichung des Sozialismus überhaupt, hatten die Redakteure unserer beiden Blätter viele Monate Gefängnisstrafen abzubüßen.
Als aber der Krieg ausbrach, wurde schon in den ersten acht Tagen des August 1914 das Erscheinen beider Zeitungen gänzlich verboten. Dem als Notbehelf von der Geschäftskommission zwecks Information und zur Pflege des Zusammenhalts herausgegebenen „Mitteilungsblatt“ ereilte später dasselbe Schicksal, nachdem eine mündliche Verwarnung des verantwortlichen Redakteurs durch den Zensor vorangegangen war. Das kleine Blättchen atmete zuviel Friedensgeist, „es ist durchgängig pazifistisch gehalten“, so sagte man, und das sei nicht angängig. In dem jetzt erscheinenden „Rundschreiben“ dürfen laut Befehl nur „tatsächliche Mitteilungen“ an die Vereine und deren Mitglieder gemacht werden.
Was also die Tätigkeit der Vereinigung durch die Presse betrifft, da kann, soweit es auf die Vertretung und Propaganda ihrer Ideen und Bestrebungen ankommt, jetzt rein gar nichts geschehen. Und da auf Grund des Belagerungszustandes auch öffentliche Versammlungen, wenigstens für uns, undenkbar sind, sind wir ungefähr so gut oder so schlecht daran, wie unserer Gewerkschaftsgenosse, die sofort nach ergangenem Mobilmachungsbefehl, am 3. und 4. August 1914, verhaftet und ins Gefängnis gesetzt wurden von denen – in Krefeld und Elberfeld – heute noch einige sitzen, ohne dass sie wissen, welcher Taten man sie beschuldigt.
Aber nicht doch! „Ihr, soweit ihr nicht militärdienstpflichtig oder noch nicht zum Militärdienst eingezogen seit,“ so hört man gewisse Leute rufen, „ihr könnt euch als Gewerkschaftler doch trotzdem reichlich und ausgiebig frei betätigen…Seht einmal die Generalkommission, die Gewerkschaftskommissionen und –Kartellausschüsse unserer Zentralverbände, wie die arbeiten. Sie sind in den verschiedensten Kriegsausschüssen und –Kommissionen tätig, haben mit den Unternehmern Arbeitsgemeinschaften gebildet usw.; in Bayern haben sie sogar als Anerkennung für ihre Dienste für das Vaterland usw. vom König einen Orden bekommen. Was aber tut ihr? Nichts, gar nichts!“
Nein! Ganz gewiß nicht! Solche Funktionen stehen den Mitgliedern und Vorständen innerhalb der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften nicht an. Können sie sich auch gegen den Militärdienst, dagegen die Herstellung von Munition und gegen vieles andere, das ihren Prinzipien und Ideen zuwiderläuft, auf Grund ihrer Minderheit mit Erfolg nicht wehren, und müssen auch sie ihr eigen Leben und ihre Gesundheit oder das ihrer Föhne und Brüder drangeben. Aus freiem Willen mehr zu tun? Nein, das kann niemand von ihnen verlangen! Sie haben dazu einfach keinen Beruf und nicht die Fähigkeit, über Nacht aus Saulussen zu Paulussen zu werden. Die Gunst oder Ungunst des Augenblicks kann wohl ihr propagandistisches Verhalten beeinflussen, nicht aber ihr persönliches resp. Geistiges Verhältnis zum Sozialismus. Das ist gefestigt und steht hoch und erhaben, unwandelbar über alles in der Welt.
Das zur Antwort denen, die selbst in dieser unendlich schweren Zeit es sich nicht verkneifen können, unsere so hart bedrängte Bewegung und deren Angehörige in zynischer Weise zu verhöhnen und herabzusetzen.
Die Mitglieder der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften empfinden es gar nicht so schwer, dass ihre Zeitungen verboten wurden. Wissen sie doch, dass, wenn die Verbote nicht erfolgt wären, die Redaktion ihre Tätigkeit aus eigener Entschließung hätte einstellen müssen, schon deshalb, weil sie nicht hätte so schreiben können, wie die Zensur es erklaubt, und weil die Leser, besonders die des „Pionier“, eine solche Lektüre weit von sich gewiesen hätten. Was sollte denn die „Einigkeit“ und der „Pionier“ während der Kriegszeit an Inhalt bieten? Die Aufgabe, zu der sie ins Leben gerufen wurden, weiter zu erfüllen, war unter dem Belagerungszustand sowieso nicht möglich, Die ist vor dem Krieg in reichlichem Maße erfüllt worden. Daß es noch so wenig Erfolg hatte, ist nicht ihre Schuld. Was bis zum 1. August 1914 bei den deutschen Arbeitern auf diesem Gebiete nicht zu erreichen war, war nach dieser Zeit bei den Massen, auch bis zum heutigen Tage noch aussichtslos. Vielleicht ändert sich dies nach dem Kriege. Bi dahin werden die Vereine, soweit sie noch über Mitlieder verfügen, soweit diese nicht in den Schützengräben, in den Etappen, den Garnisonen oder schon unter der Erde gar auf den Kriegsschauplätzen ruhen, ruhig und besonnen an ihrer eigenen Erhaltung und inneren Kräftigung, wie an der geistigen Läuterung der Mitglieder arbeiten, immer in dem Bewusstsein, dass die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften nicht Selbstzweck, sondern Dienerin des die ganze Welt umfassenden Sozialismus ist und bleiben will.
Das ist ihr Beruf.
Aus: Mitteilungsblatt, Nr. 16 vom 1. Februar 1916
[1] Polizei Düsseldorf vom 8. Juni 1915, in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 16609.